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Anmerkung zu:BVerwG 5. Senat, Urteil vom 02.11.2022 - 5 A 1/21
Autor:Dr. Rainer Störmer, Vors. RiBVerwG
Erscheinungsdatum:05.06.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 50 VwGO, § 78 BBG, Art 33 GG, § 6 BBhV
Fundstelle:jurisPR-BVerwG 11/2023 Anm. 1
Herausgeber:Verein der Bundesrichter bei dem Bundesverwaltungsgericht e.V.
Zitiervorschlag:Störmer, jurisPR-BVerwG 11/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Grenzen der Beihilfefähigkeit von medizinischen Behandlungen



Orientierungssatz zur Anmerkung

Zur regelmäßig fehlenden Beihilfefähigkeit von medizinischen Behandlungen, denen im Behandlungszeitraum die wissenschaftliche Anerkennung fehlt - hier: Liposuktionen zur Behandlung eines Lipödems des Stadiums II.



A.
Problemstellung
Aufwendungen für eine medizinische Behandlung, der im Behandlungszeitraum die Eigenschaft als wissenschaftlich anerkannter Methode fehlt, sind grundsätzlich nicht beihilfefähig. Wie verhält es sich für Kosten, die für eine Liposuktion (sog. Fettabsaugung) zur Behandlung eines Lipödems aufgewendet worden sind?


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die gegenüber der beklagten Bundesrepublik Deutschland beihilfeberechtigte Klägerin erhielt im November 2019 die fachärztliche Diagnose, an einem Lipödem (einer Erkrankung des Fettgewebes) des Stadiums II zu leiden. In der Folge ließ sie, obgleich die Beihilfestelle eine Kostenübernahme mit der Begründung ablehnte, dass die medizinische Notwendigkeit von Liposuktionen zu verneinen sei, auf Empfehlung von ihr konsultierter Ärzte an den betroffenen Körperregionen eine wasserstrahlassistierte Liposuktion (WAL-Technik) durchführen. Die entsprechenden operativen Eingriffe wurden in einer Fachklinik im Juli 2020 (Unterschenkel), September 2020 (Oberschenkelvorderseiten) und November 2020 (Arme) sowie im Februar 2022 (Oberschenkelrückseiten) vorgenommen. Die hierfür in Rechnung gestellten Aufwendungen beliefen sich auf insgesamt 25.500 Euro. Nachdem die Beihilfestelle ihr Erstattungsbegehren abgelehnt und ihren Widerspruch zurückgewiesen hatte, hat die Klägerin bei dem BVerwG Klage erhoben. Das BVerwG, das für Klagen, denen Vorgänge im Geschäftsbereich des Bundesnachrichtendienstes zugrunde liegen, im ersten und letzten Rechtszug zuständig ist (§ 50 Abs. 1 Nr. 4 VwGO), hat entschieden, dass der Klägerin kein Anspruch auf Gewährung einer Beihilfe zu den Aufwendungen für die Liposuktionen zusteht und dies in den Grundzügen wie folgt begründet:
I. Einem auf die hier als Rechtsgrundlage anzuwendende Bundesbeihilfeverordnung (BBhV) gestützten Anspruch steht die fehlende Beihilfefähigkeit entgegen. Weil es für das Bestehen des geltend gemachten Beihilfeanspruchs auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Entstehens der Aufwendungen ankommt, ist für die im Jahre 2020 vorgenommenen und abgerechneten Liposuktionen noch auf die in diesem Zeitraum geltende (alte) Fassung der Bundesbeihilfeverordnung abzustellen, während für die im Februar 2022 durchgeführte und in Rechnung gestellte Liposuktion die Bundesbeihilfeverordnung in der neuen Fassung anzuwenden ist (BBhV i.d.F. der am 01.01.2021 in Kraft getretenen Neunten Verordnung zur Änderung der Bundesbeihilfeverordnung vom 01.12.2020 - BGBl I, 2713, berichtigt am 01.03.2021, BGBl I, 343). Inhaltlich verschiedene Maßstäbe ergeben sich im vorliegenden Zusammenhang aus den beiden Fassungen nicht. Sowohl nach der alten wie auch der neuen Fassung der Bundesbeihilfeverordnung sind grundsätzlich nur notwendige und wirtschaftlich angemessene Aufwendungen beihilfefähig (§ 6 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 BBhV a.F. und § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 BBhV n.F.). Deshalb wird im Folgenden nur die neue Fassung zitiert. Die Notwendigkeit von Aufwendungen für Untersuchungen und Behandlungen setzt danach grundsätzlich voraus, dass diese nach einer wissenschaftlich anerkannten Methode vorgenommen werden (§ 6 Abs. 4 Satz 1 BBhV). Als nicht notwendig gelten in der Regel Untersuchungen und Behandlungen, soweit sie in der Anlage 1 ausgeschlossen werden (§ 6 Abs. 4 Satz 2 BBhV). Letzteres trifft zwar auf die Liposuktion nicht zu. Diese stellte aber in dem hier streitgegenständlichen Zeitraum zwischen Juli 2020 und Februar 2022 keine wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode bei einem Lipödem des bei der Klägerin unstreitig diagnostizierten Stadiums II dar und die betreffenden Aufwendungen erwiesen sich auch nicht ausnahmsweise als beihilfefähig.
1. Nach dem materiell-rechtlichen Maßstab – der medizinischen Notwendigkeit als Voraussetzung für die Beihilfegewährung – sind Aufwendungen in Krankheitsfällen dem Grunde nach notwendig, wenn sie für eine medizinisch gebotene Behandlung entstanden sind, die der Wiedererlangung der Gesundheit, der Besserung oder Linderung von Leiden, der Beseitigung oder dem Ausgleich körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen dient. Eine Behandlungsmethode ist wissenschaftlich anerkannt, wenn sie von der herrschenden oder doch überwiegenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft für eine Behandlung der Krankheit als wirksam und geeignet angesehen wird. Unter Zugrundelegung dieses rechtlichen Maßstabs gelangte das BVerwG in tatsächlicher Hinsicht zu der Überzeugung, dass die Liposuktion im maßgeblichen Zeitraum von der überwiegenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft – unabhängig von dem Schweregrad des konkreten Krankheitsbildes – zur Behandlung eines Lipödems des Stadiums II nicht als wirksam und geeignet angesehen worden und daher nicht wissenschaftlich anerkannt gewesen ist. Dies folgert das BVerwG zum einen aus verschiedenen Entscheidungen, die der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) seit 2017 im Hinblick auf die Liposuktion als Behandlung eines Lipödems (für den Bereich der gesetzlichen Krankenkassen) getroffen hat. Diese Entscheidungen einschließlich ihrer jeweiligen Begründung sind über die Internetseite des Ausschusses (www.g-ba.de) allgemein zugänglich. Im Einzelnen wertet der Senat die Entscheidungen des GBA vom 20.07.2017, vom 18.01.2018 und die Beschlüsse vom 19.09.2019 aus. Unabhängig davon und überdies stützt das BVerwG seine Einschätzung auch auf die von der Beklagten vorgelegte und im Internet allgemein zugängliche „S1-Leitlinie Lipödem“ der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. vom Oktober 2015 (Registernummer 037-012). Diese Leitlinie beruht auf einer systematischen Literaturrecherche und dem Konsens von acht medizinischen Fachgesellschaften und Berufsverbänden. Die Arbeitsgemeinschaft geht danach von einer konservativen Therapie als Standardtherapie aus. In diesem Sinne sind insbesondere ihre Ausführungen im Rahmen der zusammenfassenden Bewertung der Therapie zu verstehen, es solle primär ein Therapieversuch mit konservativen Maßnahmen unternommen werden. Bleibe eine entsprechende Besserung der Beschwerden aus, sei eine Liposuktion zu erwägen. Das lässt darauf schließen, dass die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. die Liposuktion nicht als wissenschaftlich anerkannte Methode zur Behandlung von Lipödemen ansieht. Für diese Schlussfolgerung sprechen auch die weiteren, mit den Feststellungen des Gemeinsamen Bundesausschusses inhaltlich übereinstimmenden Ausführungen der Arbeitsgemeinschaft, dass neben den Ursachen auch die genauen Pathomechanismen nicht geklärt und eine kausale Therapie nicht bekannt sei.
2. Die Aufwendungen für die Liposuktionen sind – so hat das BVerwG weiter entschieden – auch nicht ausnahmsweise beihilfefähig. Zwar können Aufwendungen für eine nicht wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode aufgrund der Fürsorgepflicht des Dienstherrn (§ 78 BBG) ausnahmsweise zu erstatten sein, wenn sich eine wissenschaftlich allgemein anerkannte Methode für die Behandlung der diagnostizierten Krankheit noch nicht herausgebildet hat, wenn im Einzelfall, etwa wegen einer Gegenindikation, das anerkannte Heilverfahren nicht angewendet werden darf oder wenn ein solches Verfahren bereits ohne Erfolg eingesetzt worden ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.06.1995 - 2 C 15/94 - Buchholz 271 LBeihilfeR Nr 15 S. 9; vgl.a. BVerwG, Urt. v. 18.06.1998 - 2 C 24/97 - Buchholz 270 § 6 BhV Nr. 10 S. 5 und BVerwG, Beschl. v. 20.10.2011 - 2 B 63/11 - IÖD 2012, 20, 22). Ein solcher von der Rechtsprechung des BVerwG zugelassener Ausnahmefall wäre hier allenfalls unter der Voraussetzung der erfolglosen Anwendung einer wissenschaftlich anerkannten Behandlungsmethode in Betracht gekommen. Die tatsächlichen Voraussetzungen dieses Ausnahmefalles lagen jedoch nicht vor, weil sich nicht feststellen ließ, dass sich die Klägerin vor den operativen Eingriffen in Form der Liposuktion ohne Erfolg einer wissenschaftlich anerkannten Behandlungsmethode unterzogen hatte. So hatte sie die Lipödeme vor den Liposuktionen nicht nach der komplexen physikalischen Entstauungstherapie (KPE), deren wissenschaftliche Anerkennung sie zu Recht nicht bestritten hat, behandeln lassen.
II. Ein Beihilfeanspruch ergab sich für die Klägerin – was das BVerwG ergänzend und im Einzelnen noch ausführt – auch nicht aus Härtefallgesichtspunkten (Härtefallregelung des § 6 Abs. 8 Satz 1 BBhV) oder unmittelbar aus dem durch Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten Fürsorgegrundsatz.


C.
Kontext der Entscheidung
Die vorliegende Entscheidung des BVerwG steht im Kontext mit seiner bisherigen Rechtsprechung zur beihilferechtlichen Notwendigkeit von Aufwendungen als Voraussetzung für die Beihilfegewährung. Der Begriff der Notwendigkeit i.S.v. § 6 Abs. 3 Satz 1 BBhV (vormals § 6 Abs. 1 Satz 1 BBhV a.F.) ist ein der gerichtlichen Überprüfung voll zugänglicher unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Inhalt in der Rechtsprechung geklärt ist. Danach sind Aufwendungen in Krankheitsfällen dem Grunde nach notwendig, wenn sie für eine medizinisch gebotene Behandlung entstanden sind, die der Wiedererlangung der Gesundheit, der Besserung oder Linderung von Leiden, der Beseitigung oder dem Ausgleich körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen dienen (BVerwG, Beschl. v. 30.09.2011 - 2 B 66/11 - Buchholz 270 § 5 BhV Nr 21 Rn. 11; BVerwG, Urt. v. 08.11.2012 - 5 C 4/12 - Buchholz 270.1 § 22 BBhV Nr 1 Rn. 15 und BVerwG, Urt. v. 10.10.2013 - 5 C 32/12 - BVerwGE 148, 106 Rn. 13 m.w.N). Zudem ist in der Rechtsprechung geklärt, dass die medizinische Notwendigkeit von Aufwendungen für eine ärztliche Behandlung grundsätzlich der gerichtlichen Nachprüfung unterliegt, auch wenn regelmäßig der Beurteilung des verordnenden Arztes zu folgen sein wird, weil dieser über die erforderliche Sachkunde verfügt (BVerwG, Urt. v. 27.03.2012 - 2 C 46/10 - Buchholz 270 § 6 BhV Nr 23 Rn. 13; BVerwG, Beschl. v. 22.08.2018 - 5 B 3/18 - NVwZ-RR 2019, 112 Rn. 10, vgl. dazu Störmer, jurisPR-BVerwG 24/2018 Anm. 4). In der vorliegenden Entscheidung knüpft das BVerwG konkret an den in § 6 Abs. 4 Satz 1 BBhV verwendeten Begriff der medizinischen Notwendigkeit an. Medizinisch geboten sind danach grundsätzlich nur wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethoden, das heißt von der herrschenden oder doch überwiegenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft für eine Behandlung der Krankheit als wirksam und geeignet angesehene Methoden. Ob eine bestimmte Methode zur Behandlung von Krankheiten von der jedenfalls überwiegenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft als wirksam und geeignet angesehen wird, betrifft nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichts den Bereich der Tatsachen, nicht die rechtliche Würdigung (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 26.06.2020 - 5 C 4/19 - BVerwGE 169, 48 Rn. 17 m.w.N.). Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe gelangte der Senat in tatsächlicher Hinsicht zu der Überzeugung, dass die Liposuktionen im maßgeblichen Zeitpunkt ihrer jeweiligen Durchführung zur Behandlung eines Lipödems des Stadiums II nicht wissenschaftlich anerkannt waren. Der Sache nach ist dies bisher – worauf das BVerwG ergänzend verweist – auch in Entscheidungen anderer Gerichte überwiegend so beurteilt worden (vgl. dazu BSG, Urt. v. 25.03.2021 - B 1 KR 25/20 R - BSGE 132, 67 Rn. 8 ff.; OVG Lüneburg, Urt. v. 22.01.2013 - 5 LB 50/11 - KHE 2013, 159; VG Köln, Urt. v. 02.02.2017 - 1 K 1983/16; VG Bayreuth, Urt. v. 09.02.2021 - B 5 K 20.401; FG Gotha, Urt. v. 07.07.2020 - 3 K 54/20 - EFG 2021, 211; FG München, Urt. v. 15.12.2020 - 15 K 2606/19 - EFG 2021, 650; FG Neustadt, Urt. v. 17.08.2021 - 5 K 1321/20; offengelassen VG Gelsenkirchen, Urt. v. 22.06.2018 - 3 K 2477/16; a.A. FG Leipzig, Urt. v. 10.09.2020 - 3 K 1498/18 - EFG 2021, 43; OLG Hamm, Urt. v. 19.01.2018 - I-11 U 41/17).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des BVerwG setzt die bisherige beihilferechtliche Judikatur fort und bestätigt, dass Aufwendungen für eine medizinische Behandlung, der im Behandlungszeitraum die Eigenschaft als wissenschaftlich anerkannter Methode fehlt, grundsätzlich nicht beihilfefähig sind. Zugleich stellt sie für die Praxis klar, dass dies im entscheidungserheblichen Zeitraum auch für die in Rede stehende Liposuktion zur Behandlung eines Lipödems des Stadiums II galt.



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