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Anmerkung zu:ArbG Hamburg 29. Kammer, Urteil vom 04.07.2024 - 29 Ca 110/24
Autor:Dr. Peter Bader, Präsident LArbG a.D.
Erscheinungsdatum:16.04.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 242 BGB, § 173 SGB 9, § 64 ArbGG, § 23 KSchG, § 4 KSchG, § 1 KSchG, § 102 BetrVG
Fundstelle:jurisPR-ArbR 15/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Bader, jurisPR-ArbR 15/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Weiterbeschäftigungsanspruch nach einer Kündigung während der Wartezeit nach § 1 KSchG



Leitsatz

Der betriebsverfassungsrechtliche Weiterbeschäftigungsanspruch aus § 102 Abs. 5 BetrVG findet keine Anwendung, wenn ein Arbeitsverhältnis nicht dem allgemeinen Kündigungsschutz unterfällt, weil die Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG noch nicht abgelaufen ist. Um Wertungswidersprüche zu vermeiden, ist § 102 Abs. 3, 5 BetrVG teleologisch zu reduzieren.



Orientierungssatz zur Anmerkung

Den Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG können auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne Kündigungsschutz nach dem KSchG und unabhängig von einem solchen Kündigungsschutz geltend machen.



A.
Problemstellung
Die zentrale Problemstellung ist die Frage danach, ob der betriebsverfassungsrechtliche Weiterbeschäftigungsanspruch des § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG voraussetzt, dass im konkreten Fall allgemeiner Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG) besteht.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Beklagte ist eine Wohnungsbaugenossenschaft, die u.a. eine genossenschaftliche Spareinrichtung mit angegliederter Mitgliederverwaltung und angegliedertem Beratungsservice unterhält. Sie beschäftigt mehr als zehn Arbeitnehmer(innen) i.S.d. § 23 Abs. 1 KSchG, bei ihr ist ein Betriebsrat gebildet, eine Schwerbehindertenvertretung besteht jedoch nicht.
Die Klägerin war seit dem 16.10.2023 bei der Beklagten als „qualifizierte Kundenberaterin“ im Bereich „Spar, Mitgliederverwaltung und Beratungsservice“ beschäftigt. Sie gehört zur Gruppe der schwerbehinderten Menschen mit einem Grad der Behinderung von 100. Auf den Gehaltsabrechnungen ist ab November 2023 ein Freibetrag ausgewiesen, wie er von schwerbehinderten Menschen beansprucht werden kann.
Die Beklagte hörte den Betriebsrat unter dem 28.02.2024 zu einer ordentlichen Kündigung an. Die Anhörung enthält u.a. folgende Begründung:
„Die Einarbeitung von Frau ... gestaltet sich zäh und mühsam. Ihre Arbeitsleistung liegt weit hinter unseren Erwartungen zurück. …
Wir haben inzwischen den Eindruck gewonnen, dass der neue Arbeitsbereich Frau ... überfordert – und zwar dauerhaft. Unsere Unterstützung und Anleitung fruchten nicht; es muss immer wieder aufs Neue erläutert, kontrolliert und eng im Tagesgeschäft begleitet werden. Es gibt keinerlei positive Signale, die absehbar eine Besserung erkennen lassen.“
Ein Mitglied des Betriebsrats suchte während des Anhörungsverfahrens das Gespräch mit der Klägerin. Diese teilte dabei mit, eine Schwerbehinderung mit einem GdB von 100 zu haben. Mit einer E-Mail vom 01.03.2024 übermittelte die Klägerin der Beklagten eine Kopie ihres Schwerbehindertenausweises, worauf die Beklagte in einem Nachtrag vom 01.03.2024 die Betriebsratsanhörung wie folgt ergänzte:
„Überraschend übersandte Frau ... heute … ihren Schwerbehindertenausweis (100%, unbefristet, ausgestellt 11.04.2012) an den Fachbereich Personal. Vorausgegangen war gestern ein Gespräch mit Herrn ... in seiner Eigenschaft als Betriebsrat nach Übersendung der Anhörung. Die bestehende Schwerbehinderung wurde von Frau ... bisher weder im Zuge ihrer Bewerbung, während des Bewerbungsgespräches noch in den zurückliegenden Wochen der versuchten Einarbeitung kommuniziert. Sie wurde dem Arbeitgeber nun erstmals bekannt und führt zu keiner veränderten Einschätzung von Frau ... Arbeitsleistung; positive Perspektiven sind diesbzgl. nicht erkennbar. In Ansehung der geschilderten Defizite wird auch keine Möglichkeit gesehen, sie auf einem anderen Arbeitsplatz zu beschäftigen. An der Kündigungsabsicht zum 30.04.2024 innerhalb der vereinbarten Probezeit wird daher festgehalten.“
Mit Schreiben vom 05.03.2024 erklärte der Betriebsrat seinen Widerspruch und verwies u.a. auf eine „freie Stelle als Allround-Sachbearbeiter(in) in der Abteilung Beratungsservice“.
Die Beklagte kündigte mit Schreiben vom 07.03.2024, der Klägerin zugegangen am selben Tag, ordentlich. Außerdem zeigte sie dem Integrationsamt mit Schreiben ebenfalls vom 07.03.2024 gemäß § 173 Abs. 4 SGB IX die „Kündigung eines Anstellungsverhältnisses innerhalb der Probezeit“ an.
Die Klägerin hält die Kündigung für unwirksam. Verhaltensbedingte Gründe lägen nicht vor. Es bestehe ein Weiterbeschäftigungsanspruch aus § 102 Abs. 5 BetrVG. Dieser finde auch während der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG Anwendung. Der Betriebsrat habe der Kündigung ordnungsgemäß widersprochen und auf einen anderen freien Arbeitsplatz hingewiesen. Mit Schreiben vom 30.04.2024, der Beklagten vorab per E-Mail übersandt, habe sie die Weiterbeschäftigung verlangt.
Ihre Schwerbehinderung beruhe auf einem Hirntumor, der im Jahr 2011 operiert worden sei. Sie sei lediglich motorisch eingeschränkt, weise aber keine kognitiven oder geistigen Einschränkungen auf. Insofern werde die Behauptung der Beklagten, sie weise Defizite auf, bestritten. sie sei vielmehr diskriminiert worden.
Die Klägerin hat daher letztlich beantragt,
1. festzustellen, dass ihr Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 07.03.2024, zugegangen am 07.03.2024, zum 30.04.2024 nicht aufgelöst worden ist,
2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedingungen über den Beendigungszeitpunkt hinaus fortbesteht,
3. die Beklagte zu verurteilen, sie zu den im Arbeitsvertrag vom 10.10.2023 geregelten Arbeitsbedingungen als kaufmännische Angestellte … bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Feststellungsantrag weiterzubeschäftigen.
Demgegenüber hat die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen und für den Fall des Unterliegens das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien gegen Zahlung einer angemessenen Abfindung, die 1.135,50 Euro nicht überschreiten sollte, aufzulösen, wobei die Klägerin den Auflösungsantrag zurückgewiesen wissen will.
Die Beklagte verweist darauf, dass die Kündigung während der Wartezeit ausgesprochen worden sei, weil sich die Klägerin nicht bewährt habe. Insofern sei es um den subjektiven Eindruck während der Wartezeit gegangen. Von der Schwerbehinderung habe sie bis zu der E-Mail der Klägerin vom 01.03.2024 keine Kenntnis gehabt, eine Diskriminierung liege nicht vor. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Weiterbeschäftigung aus § 102 Abs. 5 BetrVG, diese Vorschrift sei auf eine Kündigung während der Wartezeit nach § 1 KSchG nicht anzuwenden.
Das ArbG Hamburg hat über den Klageantrag zu 2) nicht entschieden. Der allgemeine Feststellungsantrag sei nämlich als lediglich hilfsweise gestellt auszulegen, für den Fall, dass das Arbeitsverhältnis nicht aufgrund der Kündigung vom 07.03.2024 aufgelöst worden ist (vgl. BAG, Urt. v. 28.02.2023 - 2 AZN 22/23 Rn. 7). Im Übrigen hat das Arbeitsgericht die Klage als unbegründet abgewiesen. Mangels Ablaufs der Wartezeit bei Zugang der Kündigung sei die Kündigung nicht auf ihre soziale Rechtfertigung hin zu überprüfen. Ein Verstoß gegen § 242 BGB liege nicht vor, eine Diskriminierung sei nicht gegeben. Es fehle nach dem Vortrag der Klägerin insbesondere an Anhaltspunkten dafür, dass die Kündigung wegen der Schwerbehinderung erfolgt sein könnte. Die Änderung des Freibetrags im laufenden Arbeitsverhältnis erfolge nach dem Vortrag der Beklagten, dem die Klägerin nicht entgegengetreten sei, vollautomatisch, also ohne Kenntnis der Kündigungsberechtigten und Vorgesetzten. Im Übrigen sei der Betriebsrat in der Probezeit ordnungsgemäß angehört worden, und einer Beteiligung des Integrationsamtes habe es nicht bedurft (§ 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IX).
Betreffend den Klageantrag zu 3) ist die Berufung nach § 64 Abs. 3 Nr. 1 ArbGG zugelassen worden.


C.
Kontext der Entscheidung
Nach der Rechtslage bis zum 31.12.2003 konnte der Arbeitnehmer mit der Kündigungsschutzklage nach dem KSchG allein die Sozialwidrigkeit einer ordentlichen Kündigung angreifen. Klagen wegen Unwirksamkeit einer ordentlichen Kündigung aus anderen Gründen konnten damit auch keinen Weiterbeschäftigungsanspruch gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG auslösen (Rinck in: KR, 14. Aufl. 2025, § 102 BetrVG Rn. 273). Nach der Änderung des § 4 KSchG durch das Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (BGBl I, 3002) mit Wirkung vom 01.01.2004 erfasst die Verweisung in § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG nach ihrem eindeutigen Wortlaut nunmehr auch (schriftliche) Kündigungen, die „aus anderen Gründen“ als der Sozialwidrigkeit unwirksam sind (so zutreffend Rinck in: KR, § 102 BetrVG Rn. 273 m.w.N. zum Meinungsstand). Den Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG können daher auch Arbeitnehmer ohne Kündigungsschutz nach dem KSchG und unabhängig von einem solchen Kündigungsschutz geltend machen (ebenso Koch in: APS, 7. Aufl. 2024, § 102 BetrVG Rn. 205; Nungeßer in: Bader/Bram; Kündigungs- und Bestandsschutz im Arbeitsverhältnis, Dezember 2022, § 102 BetrVG Rn. 73; Ricken in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht, 11. Aufl. 2024, § 102 BetrVG Rn. 83; Pessinger, ZTR 2022, 632, 634).
Nach der Gegenansicht setzt der betriebsverfassungsrechtliche Anspruch auf Weiterbeschäftigung die Anwendbarkeit des KSchG voraus (etwa Kania in: ErfKomm, 25. Aufl. 2025, § 102 BetrVG Rn. 33; Fitting, BetrVG, 32. Aufl. 2024, § 102 Rn. 107). Der Arbeitnehmer muss danach die Klage zumindest auch auf die Sozialwidrigkeit i.S.d. § 1 KSchG stützen (entsprechend Mauer in: BeckOK Arbeitsrecht, 74. Ed. 01.12.2024, § 102 BetrVG Rn. 24). In diesem Sinne hat auch das ArbG Hamburg entschieden (Rn. 62 ff. der Entscheidungsgründe, mit ausführlicher Darstellung des Meinungsstandes in Rn. 64). § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG sei entsprechend teleologisch zu reduzieren. Ein betriebsverfassungsrechtlicher Weiterbeschäftigungsanspruch außerhalb des Anwendungsbereichs der §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG stehe nämlich im Widerspruch zur Systematik des Kündigungsschutzes sowie zum Zusammenspiel von § 102 Abs. 3 BetrVG und § 1 Abs. 2 Sätze 2 und 3 KSchG, er sei auch vom historischen Gesetzgeber nicht gewollt.
Richtig ist zwar, dass der Gesetzgeber bei der Änderung des § 4 KSchG Ende 2003 wohl nicht bedacht hat, dass sich die Widerspruchsgründe des § 102 Abs. 3 BetrVG an der Sozialwidrigkeit des § 1 Abs. 2 Sätze 2 und 3 KSchG orientieren (Koch in: APS, § 102 BetrVG Rn. 205; Rinck in: KR, § 102 Rn. 273). Dennoch führt das nicht zu der vom ArbG Hamburg befürworteten teleologischen Reduktion des § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG, die keineswegs geboten ist. Denn die Regelung in § 102 BetrVG dient nicht nur dem Individualinteresse des Arbeitnehmers an der Aufrechterhaltung seines Arbeitsverhältnisses. Nicht weniger wichtig ist die kollektivrechtliche Bedeutung der Vorschrift. Diese soll neben dem Schutz des einzelnen Arbeitnehmers auch den Einfluss des Betriebsrats auf die Zusammensetzung der Belegschaft gewährleisten und dient deshalb in erheblichem Maße auch den Belangen der Belegschaft insgesamt (vgl. BAG, Urt. v. 13.07.1978 - 2 AZR 798/77 Rn. 20). Das bedeutet aber zugleich, dass sich aus der Regelung des Kündigungsrechts keine zwingenden Schlüsse auf eine entsprechende Rechtslage im betriebsverfassungsrechtlichen Bereich ziehen lassen, auch wenn Individual- und Kollektivschutz im Rahmen von § 102 BetrVG eng miteinander verknüpft sind (vgl. BAG, Urt. v. 13.07.1978 - 2 AZR 798/77 Rn. 21). Die Belange der Belegschaft wiegen bei einer Kündigung aus sonstigen Gründen nicht weniger schwer als bei einer sozialwidrigen Kündigung.
Da im Übrigen alle Voraussetzungen erfüllt sind (dazu Kania in: ErfKomm, § 102 BetrVG Rn. 31 ff.), wäre nach der hier vertretenen Ansicht dem Weiterbeschäftigungsantrag stattzugeben gewesen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Weiterbeschäftigung nach § 102 Abs. 5 BetrVG ist für den Arbeitnehmer in mehrfacher Hinsicht deutlich vorteilhafter als die Realisierung des allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruchs (Koch in: APS, § 102 BetrVG Rn. 185). Es wäre daher zu wünschen, dass das BAG in näherer Zukunft Gelegenheit bekommt, sich zur Frage der Auslegung des § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG zu äußern, damit in dieser bislang von der Rechtsprechung kaum beachteten Frage Klarheit geschaffen wird.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Was die Anhörung des Betriebsrats angeht, schließt sich das ArbG Hamburg in Rn. 43 ff. der Entscheidungsgründe der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des BAG zur Kündigung in der Wartezeit bzw. Probezeit (vgl. etwa BAG, Urt. v. 19.11.2015 - 6 AZR 844/14 Rn. 31 mw.N.; BAG, Urt. v. 12.09.2013 - 6 AZR 121/12 Rn. 22; krit. dazu Nungeßer in: Bader/Bram, Kündigungs- und Bestandsschutz im Arbeitsverhältnis, § 102 BetrVG Rn. 22b ff.) an, wonach es insoweit für eine korrekte Information des Betriebsrats ausreicht, dass der Arbeitgeber dem Betriebsrat lediglich ein Werturteil mitteilt, wenn sein Kündigungsentschluss allein auf seinem personenbezogenen Werturteil beruht, wobei für das Werturteil nicht zusätzlich Ansatzpunkte oder Substanziierungen angegeben werden müssen.



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