Alternative Klagehäufung: Bindung an eine vorgegebene Prüfungsreihenfolge unterschiedlicher prozessualer AnsprücheOrientierungssätze 1. Ausfluss des Antragsgrundsatzes in § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist auch die Bindung an eine vorgegebene Prüfungsreihenfolge unterschiedlicher prozessualer Ansprüche im Rahmen einer alternativen Klagehäufung, über die sich das Gericht nicht hinwegsetzen darf. 2. Daher kann eine Entscheidung über einen Hilfsantrag nur erfolgen, wenn der Hauptantrag abgewiesen oder anderweitig erledigt ist. In gleicher Weise darf über einen hilfsweise zur Entscheidung gestellten Streitgegenstand nur entschieden werden, wenn feststeht, dass eine Verurteilung aufgrund des in erster Linie verfolgten Streitgegenstands ausscheidet. Setzt sich das Gericht über die dergestalt festgelegte Reihenfolge hinweg, fehlt es wegen des vorrangig zur Entscheidung gestellten Streitgegenstands an einer Entscheidung. Das Gericht verstößt damit gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO. 3. Übergeht ein Gericht einen prozessualen Anspruch ganz oder teilweise und wird kein Antrag auf Ergänzung des Urteils nach § 321 ZPO gestellt, entfällt grundsätzlich im Umfang des Übergehens dessen Rechtshängigkeit. Ein Übergehen liegt vor, wenn das Gericht über alle prozessualen Ansprüche in vollem Umfang entscheiden wollte, versehentlich aber tatsächlich nicht erschöpfend entschieden hat. Das ist der Fall, wenn das Gericht den Streitgegenstand oder die Streitgegenstände zwar zutreffend definiert, bei seiner abschließenden Entscheidung darüber aber irrtümlich einen oder mehrere Streitgegenstände ganz oder teilweise aus den Augen verloren, also schlicht übergangen hat. Ein Übergehen liegt damit nicht vor, wenn das Gericht über einen prozessualen Anspruch ganz oder teilweise bewusst nicht entschieden hat. - A.
Problemstellung Die Entscheidung behandelt ein prozessuales Thema, das zunehmend an Bedeutung gewinnt. Immer dann, wenn ein Kläger den geltend gemachten Anspruch auf zwei oder mehrere Anspruchsgrundlagen stützt, stellt sich die Frage, ob eine „alternative Klagehäufung“ gegeben ist, die nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Die Klägerin arbeitet als Kinderkrankenschwester bei der Beklagten. Sie macht eine Höhergruppierung aus zwei Gesichtspunkten geltend. Sie meint, sie erfülle die Tatbestandsmerkmale einer höheren Vergütungsgruppe. Hilfsweise stützt sie den Anspruch auf den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Berufung der Klägerin auf der Grundlage des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes stattgegeben. Die zutreffende Eingruppierung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht offengelassen. Die Revision der Beklagten hatte im Sinne einer Zurückverweisung an das Landesarbeitsgericht Erfolg. Zur Begründung führt der 6. Senat aus, das Landesarbeitsgericht habe § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO verletzt. Aufgrund der von der Klägerin dem Gericht vorgegebenen Reihenfolge habe das Berufungsgericht zunächst den geltend gemachten vertraglichen Anspruch prüfen müssen. Ansprüche aus vertraglichen Regelungen und Ansprüche aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz seien wegen der diesen zugrunde liegenden unterschiedlichen Lebenssachverhalte unterschiedliche Streitgegenstände. Eine Entscheidung über einen Hilfsantrag dürfe nur erfolgen, wenn der Hauptantrag abgewiesen oder anderweitig erledigt sei. In gleicher Weise dürfe über einen hilfsweise zur Entscheidung gestellten Streitgegenstand nur entschieden werden, wenn feststehe, dass eine Verurteilung aufgrund des in erster Linie verfolgten Streitgegenstands ausscheide. Daher hat sich das Landesarbeitsgericht nunmehr zunächst mit dem vertraglichen Anspruch der Klägerin zu befassen.
- C.
Kontext der Entscheidung Mit dieser Entscheidung führt das BAG seine Rechtsprechung zur alternativen Klagehäufung fort und setzt sie konsequent um. Sie geht auf die vom BAG seit einigen Jahren vorgenommene „Atomisierung des Streitgegenstandsbegriffs“ zurück (hierzu bereits Sievers, jurisPR-ArbR 47/2024 Anm. 1 und Sievers, jurisPR-ArbR 22/2025 Anm. 3). Danach prüft das BAG eine Anspruchsgrundlage nur, wenn sich der Arbeitnehmer auf sie berufen hat; es genügt nicht mehr, die Tatsachen vorzutragen, aus denen das Gericht die Rechtsfolgen ableitet (vgl. besonders prägnant BAG, Urt. v. 04.07.2024 - 6 AZR 206/23 Rn. 15: normativ wirkender Tarifvertrag/arbeitsvertragliche Inbezugnahme; BAG, Urt. v. 20.03.2018 - 3 AZR 861/16 Rn. 33: Gleichbehandlungsgrundsatz, Gesamtzusage u.a./betriebliche Übung). Der 6. Senat hält es sogar für möglich, dass zwei Streitgegenstände vorliegen, wenn der Arbeitnehmer – wie hier die Klägerin – im Rahmen seines Vortrags zum arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz zwei verschiedene Vergleichsgruppen nennt (Rn. 18). Mangels Entscheidungserheblichkeit hat er diese Frage offengelassen. Dieser Rechtsprechung stehen jedoch Bedenken entgegen. Zunächst ist das enge Verständnis des Streitgegenstands durch das BAG keineswegs zwingend. Das BAG legt seiner Rechtsprechung den zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff zugrunde. Danach wird der Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens durch den gestellten Antrag (Klageantrag) und den ihm zugrunde liegenden Lebenssachverhalt (Klagegrund) bestimmt (vgl. hier Rn. 17). Der Lebenssachverhalt kann eng oder weit verstanden werden. Dies wird an Entscheidungen des BAG deutlich. In dem Verfahren mit dem Aktenzeichen 10 AZR 185/20 hatte der Arbeitnehmer den geltend gemachten tariflichen Anspruch sowohl auf eine beidseitige Tarifgebundenheit als auch auf eine vertragliche Inbezugnahme gestützt. In seiner Vorlage vom 11.11.2020 an den EuGH ist der 10. Senat offensichtlich davon ausgegangen, es liege nur ein Streitgegenstand vor. Dagegen hat der 10. Senat nach der Entscheidung des EuGH angenommen, es lägen zwei Streitgegenstände vor (BAG, Urt. v. 04.12.2024 - 10 AZR 185/20 Rn. 19). Die Rechtsprechung ist auch nicht einheitlich. Das BAG hat in einem das Sozialkassensystem der Bauwirtschaft betreffenden Verfahren angenommen, bei der Stützung der Klage auf einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag und eine gesetzliche Regelung liege nur ein Streitgegenstand vor (BAG, Urt. v. 08.05.2019 - 10 AZR 559/17 Rn. 12; BAG, Urt. v. 20.11.2018 - 10 AZR 121/18 Rn. 8 ff.). Darüber hinaus bleibt bisher unklar, wie die Rechtsprechung mit dem nach Auffassung des BAG weiterhin geltenden Grundsatz umgehen wird, dass der Kläger weder vortragen muss, auf welche Rechtsnorm er sein Begehren stützt, noch darlegen muss, dass die Rechtsnorm wirksam ist. Diese Prüfung ist ebenso wie die Subsumtion des vorgetragenen Sachverhalts Sache des Gerichts („da mihi facta dabo tibi ius“; vgl. BAG, Urt. v. 20.11.2018 - 10 AZR 121/18 Rn. 27). Zudem sind die sich aus dieser Rechtsprechung ergebenden prozessualen Folgen kaum praxisgerecht. Dies zeigt auch der vorliegende Fall, der in der Revisionsinstanz ein paradoxes Ergebnis erfahren hat: Die Revision der Beklagten hatte Erfolg, weil die Klägerin in ihren Rechten verletzt worden sein soll. Sie selbst konnte mit dem Urteil des Landesarbeitsgerichts offenbar gut leben. Ihr wurde dasjenige zugesprochen, was sie erreichen wollte, und sie hat das Urteil nicht angegriffen. Angesichts dessen erscheint es wenig prozessökonomisch, dass das Verfahren nunmehr komplett neu aufgerollt werden muss und das Landesarbeitsgericht ggf. umfangreich Beweis erheben muss, auch wenn es an der Auffassung, es liege ein Verstoß gegen den Anspruch auf Gleichbehandlung vor, festhalten will. Käme das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, dass der geltend gemachte vertragliche Anspruch nicht besteht, wohl aber der Anspruch aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz, müsste es konsequenterweise der Klägerin die Kosten zur Hälfte auferlegen.
- D.
Auswirkungen für die Praxis In der Praxis ist es bei der klageweisen Geltendmachung eines Anspruchs wichtig, darauf zu achten, die Anspruchsgrundlagen zu benennen und dem Gericht die Reihenfolge, in der die Ansprüche geprüft werden sollen, vorzugeben. Dies kann bis zum Abschluss des Verfahrens erfolgen. Geschieht dies nicht, ist die Klage wegen der Verletzung des Bestimmtheitsgebotes (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) unzulässig (BAG, Urt. v. 01.08.2024 - 6 AZR 183/23 Rn. 15; BAG, Urt. v. 17.07.2024 - 4 AZR 273/23 Rn. 12). Allerdings hat das Gericht gemäß § 139 ZPO vorab einen entsprechenden Hinweis zu erteilen.
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