EuGH-Vorlage zur Reichweite der Freizügigkeitsberechtigung von EU-DoppelstaaternLeitsatz Die Frage, ob Art. 21 Abs. 1 AEUV auf einen Unionsbürger anwendbar ist, der seit seiner Geburt die Staatsangehörigkeit zweier Mitgliedstaaten besitzt und sich in den ersten zwölf Jahren seines Lebens in dem einen und sodann in dem anderen der beiden Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat, so dass dieser Unionsbürger einem Drittstaatsangehörigen, mit dem er zeitweise verheiratet war und sich gemeinsam in dem zweiten Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht vermitteln kann, bedarf der Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union. - A.
Problemstellung Gegenstand des zu besprechenden Beschlusses ist die Reichweite der Freizügigkeitsberechtigung von EU-Doppelstaatern.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Der Kläger, ein algerischer Staatsangehöriger, hält sich seit der Ablehnung seines Asylantrags geduldet im Bundesgebiet auf. Er ist verschiedentlich strafrechtlich in Erscheinung getreten und befand sich mehrfach in Untersuchungs- und Strafhaft sowie im Maßregelvollzug. Seine frühere Ehefrau, mit der er zwischen 2017 und 2021 verheiratet war, besitzt von Geburt an die polnische Staatsangehörigkeit. Erst nach ihrer Übersiedelung nach Deutschland im Jahre 2008 stellte sich heraus, dass sie – ebenfalls seit ihrer Geburt – zudem die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Der Kläger und seine frühere Ehefrau sind Eltern dreier minderjähriger, seit ihrer Geburt in Deutschland lebender Kinder, die die deutsche und möglicherweise auch die polnische Staatsangehörigkeit besitzen. Sie hielten sich im zeitlichen Zusammenhang mit ihrer 2017 erfolgten Eheschließung gemeinsam mit zweien ihrer Kinder mehrfach für Zeiträume von einigen Tagen oder wenigen Wochen, die jedoch nie die Dauer von drei Monaten erreichten, gemeinsam in Polen auf. Der Kläger beantragte im Jahr 2018 die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Antrag, Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben. Das BVerwG hat das Revisionsverfahren ausgesetzt und gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des EuGH zu der Frage eingeholt, ob Art. 21 Abs. 1 AEUV auf einen Unionsbürger anwendbar ist, der seit seiner Geburt die Staatsangehörigkeit zweier Mitgliedstaaten besitzt und sich in den ersten zwölf Jahren seines Lebens in dem einen und sodann in dem anderen der beiden Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat, so dass dieser Unionsbürger einem Drittstaatsangehörigen, mit dem er zeitweise verheiratet war und sich gemeinsam in dem zweiten Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht vermitteln kann.
- C.
Kontext der Entscheidung I. Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU wird freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, von Amts wegen innerhalb von sechs Monaten, nachdem sie die erforderlichen Angaben gemacht haben, eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern ausgestellt, die fünf Jahre gültig sein soll. Die Norm findet im Einklang mit § 1 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU Anwendung nur auf Familienangehörige von Unionsbürgern, die nicht zugleich Deutsche sind. II. Auf Familienangehörige und nahestehende Personen von Deutschen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 Abs. 1 AEUV nachhaltig Gebrauch gemacht haben, finden gemäß § 12a FreizügG/EU die nach diesem Gesetz für Familienangehörige und für nahestehende Personen von Unionsbürgern geltenden Regelungen entsprechende Anwendung. Nach § 3 Abs. 4 FreizügG/EU behalten Ehegatten oder Lebenspartner, die nicht Unionsbürger sind, bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder Aufhebung der Lebenspartnerschaft ein Aufenthaltsrecht, wenn sie die für Unionsbürger geltenden Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 oder Nr. 5 FreizügG/EU und die weiteren Voraussetzungen des § 3 Abs. 4 FreizügG/EU erfüllen. III. Unionsrechtlich ungeklärt ist, ob ein Deutscher, der zugleich die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt und sich stets in der Bundesrepublik Deutschland und diesem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, von seinem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 Abs. 1 AEUV Gebrauch gemacht hat. 1. Gemäß Art. 3 Abs. 1 RL 2004/38/EU gilt diese Richtlinie für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen i.S.v. Art. 2 Nr. 2 RL 2004/38/EG, die ihn begleiten oder ihm nachziehen. Berechtigter i.S.v. Art. 3 Abs. 1 RL 2004/38/EG ist danach nicht ein Unionsbürger, der noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Die Tatsache, dass ein Bürger die Staatsangehörigkeit mehr als eines Mitgliedstaats besitzt, bedeutet noch nicht, dass er auch von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht. Fehlt es an einem Gebrauchmachen von der Freizügigkeit, so unterfallen er und damit auch sein Familienangehöriger nicht dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/38/EG. Ebenso wenig können sich beide in einer solchen Situation mit Erfolg auf Art. 21 Abs. 1 AEUV berufen, sofern die Situation dieses Unionsbürgers nicht von der Anwendung von Maßnahmen eines Mitgliedstaats begleitet ist, die bewirken, dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt oder die Ausübung seines Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, behindert würde (EuGH, Urt. v. 05.05.2011 - C-434/09 Rn. 39 ff., 56; BVerwG, Beschl. v. 27.02.2025 - 1 C 18.23 Rn. 12). 2. Demgegenüber kann in einem Fall, in dem ein Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich gemäß den Art. 7 Abs. 1 oder 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begeben, sich dort aufgehalten, sodann unter Beibehaltung seiner ursprünglichen Staatsangehörigkeit die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats erworben und einen Drittstaatsangehörigen geheiratet hat, mit dem er sich nach wie vor im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält, dieser Drittstaatsangehörige ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zwar nicht auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38/EG, jedoch nach Art. 21 Abs. 1 AEUV in Anspruch nehmen, wobei die Voraussetzungen hierfür nicht strenger sein dürfen als diejenigen, die die Richtlinie 2004/38 für einen Drittstaatsangehörigen vorsieht, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (EuGH, Urt. v. 14.11.2017 - C-165/16 Rn. 62; BVerwG, Beschl. v. 27.02.2025 - 1 C 18.23 Rn. 13). 3. In der streitgegenständlichen Situation, dass ein Unionsbürger dadurch, dass er sich dauerhaft aus einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er von Geburt an besitzt, in einen weiteren Mitgliedstaat begibt, dessen Staatsangehörigkeit er ebenfalls von Geburt an besitzt, spricht gegen ein Gebrauchmachen von dem Recht auf Freizügigkeit, dass die Staatsangehörigen eines jeden Mitgliedstaats der Europäischen Union in diesem über ein nicht an Bedingungen geknüpftes Aufenthaltsrecht verfügen und ihre Integration dem Grunde nach keiner Förderung bedarf (EuGH, Urt. v. 14.11.2017 - C-165/16 Rn. 37 und 56 f.; BVerwG, Beschl. v. 27.02.2025 - 1 C 18.23 Rn. 15). Andererseits besteht auch in einer solchen Situation ein Bezug zum Unionsrecht (EuGH, Urt. v. 08.06.2017 - C-541/15 Rn. 34; BVerwG, Beschl. v. 27.02.2025 - 1 C 18.23 Rn. 18). Zudem könnte ein solcher Unionsbürger, der sich nacheinander in zwei Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit er seit seiner Geburt besitzt, langfristig aufhält, hinsichtlich seines Familienlebens gegenüber einem Unionsbürger benachteiligt werden, der nur die Staatsangehörigkeit seines Herkunftslandes besitzt (vgl. EuGH, Urt. v. 14.11.2017 - C-165/16 Rn. 54 und 59; BVerwG, Beschl. v. 27.02.2025 - 1 C 18.23 Rn. 20).
- D.
Auswirkungen für die Praxis Das Vorabentscheidungsersuchen des BVerwG gibt dem EuGH Gelegenheit, seine Rechtsprechung zur Reichweite der Freizügigkeit von EU-Doppelstaatern fortzuentwickeln.
- E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung Gemäß Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 dürfen die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 vermittelt überdies dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die betreffenden Kinder tatsächlich wahrnimmt, ein Aufenthaltsrecht in dem betreffenden Mitgliedstaat, ohne dass dieser die in der Richtlinie 2004/38/EG festgelegten Voraussetzungen erfüllen muss (BVerwG, Urt. v. 11.09.2019 - 1 C 48/18 - BVerwGE 166, 251 Rn. 19, 29; BVerwG, Beschl. v. 27.02.2025 - 1 C 18.23 Rn. 28). Das Aufenthaltsrecht ist der Sicherung der Gleichbehandlung der Kinder eines Wanderarbeitnehmers mit Kindern von Arbeitnehmern in dem Aufnahmestaat zu dienen bestimmt (BVerwG, Beschl. v. 27.02.2025 - 1 C 18.23 Rn. 29). Wanderarbeitnehmer ist, wer von seinem Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht und in einem anderen Mitgliedstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt hat (EuGH, Urt. v. 23.02.1994 - C-419/92 Rn. 9; EuGH, Urt. v. 12.05.1998 - C-336/96 Rn. 21; BVerwG, Beschl. v. 27.02.2025 - 1 C 18.23 Rn. 29). Hierzu zählen solche Personen nicht, die schon als Kind in den anderen Mitgliedstaat gereist sind und deren Einreise nicht dazu zu dienen bestimmt war, in dem anderen Mitgliedstaat eine Berufstätigkeit aufzunehmen (BVerwG, Beschl. v. 27.02.2025 - 1 C 18.23 Rn. 30).
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