Kontext der Entscheidung
I. Für die Beurteilung der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts zugrunde zu legen. Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind zu beachten, sofern das Berufungsgericht – entschiede es anstelle des BVerwG – diese zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urt. v. 16.07.2015 - 1 C 22/14 - Buchholz 402.261 § 4a FreizügG/EU Nr 4 Rn. 11, Rn. 13 des Besprechungsurteils).
II. Sind die Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen oder liegen diese nicht vor, so kann gemäß § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt und bei Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, die Aufenthaltskarte eingezogen werden. Eine Verlustfeststellung ist in Betracht zu nehmen, wenn das Freizügigkeitsrecht ursprünglich bestanden hat und später entfallen ist, aber auch wenn seine Voraussetzungen zu keinem Zeitpunkt bestanden haben. Sie ist bis zum Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts i.S.v. § 4a FreizügG/EU statthaft (BVerwG, Urt. v. 28.03.2019 - 1 C 9/18 - BVerwGE 165, 128 Rn. 10, Rn. 16 des Besprechungsurteils). § 5 Abs. 4 FreizügG/EU erfordert im Rahmen einer Ermessensentscheidung eine umfassende Abwägung der für und wider die Verlustfeststellung streitenden Gründe.
III. Ein Freizügigkeitsrecht erwächst dem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers nicht allein aus dem Besitz einer Aufenthaltskarte. Die Aufenthaltskarte i.S.d. § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU stellt lediglich deklaratorisch das Bestehen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts fest (vgl.
BT-Drs. 17/10746, S. 11). Sie ist kein feststellender Verwaltungsakt i.S.d. § 35 Satz 1 VwVfG, sondern schlicht hoheitliches Handeln (BVerwG, Urt. v. 23.09.2020 - 1 C 27/19 - Buchholz 451.902 Europ Ausländer- und Asylrecht Nr 123 Rn. 14, Rn. 17 des Besprechungsurteils).
IV. Gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. d FreizügG/EU sind Familienangehörige einer Person im Sinne dieses Gesetzes die Verwandten in gerader aufsteigender Linie der Person oder des Ehegatten oder des Lebenspartners, denen von diesen Unterhalt gewährt wird. Die Norm erfasst im Einklang mit Art. 2 Nr. 2 Buchst. d RL 2004/38/EG allein diejenigen Verwandten des Unionsbürgers und des Ehegatten oder Lebenspartners in gerader aufsteigender Linie, denen von diesen Unterhalt gewährt wird. Beide Bestimmungen knüpfen an eine tatsächliche Situation an, die dadurch gekennzeichnet ist, dass eine erwachsene Referenzperson ihren Eltern oder Großeltern Unterhalt leistet. Nicht erfasst ist die Konstellation, dass ein erwachsener Familienangehöriger in gerader aufsteigender Linie den Unionsbürger finanziell unterstützt (vgl. Fleuß, VerwArch 2022, 201, 212 m.w.N.). Demgegenüber ist ein Drittstaatsangehöriger, der seinem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgerkind Unterhalt gewährt, nicht Familienangehöriger im Sinne der vorgenannten Bestimmungen (EuGH, Urt. v. 08.11.2012 - C-40/11 „Iida“ Rn. 55; BVerwG, Urt. v. 23.09.2020 - 1 C 27/19 - Buchholz 451.902 Europ Ausländer- und Asylrecht Nr 123 Rn. 17).
V. Gemäß § 12a FreizügG/EU finden auf Familienangehörige und nahestehende Personen von Deutschen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV nachhaltig Gebrauch gemacht haben, die nach diesem Gesetz für Familienangehörige und für nahestehende Personen von Unionsbürgern geltenden Regelungen entsprechende Anwendung. § 12a FreizügG/EU erfasst in Anknüpfung an § 1 Abs. 1 Nr. 6 FreizügG/EU diejenigen Fallkonstellationen, in denen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Regelungen des Freizügigkeitsrechts, insbesondere der Richtlinie 2004/38/EG, entsprechend anzuwenden sind. Indes hat die Fallgruppe drittstaatsangehöriger Elternteile, die mangels Unterhaltsgewährung durch ihr Kind zwar nicht Familienangehörige i.S.v. Art. 2 Nr. 2 Buchst. d RL 2004/38/EG sind, denen aber aus Art. 21 Abs. 1 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG wegen tatsächlicher Ausübung der Sorge für ein Unionsbürgerkind und bei ausreichenden Existenzmitteln i.S.v. Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG ein Aufenthaltsrecht zusteht, in den Materialien zu § 12a FreizügG/EU keine Erwähnung gefunden (BVerwG, Urt. v. 23.09.2020 - 1 C 27/19 - Buchholz 451.902 Europ Ausländer- und Asylrecht Nr 123 Rn. 22, Rn. 19 des Besprechungsurteils).
VI. Gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist anerkannt, dass drittstaatsangehörige Familienangehörige eines Unionsbürgers in besonders gelagerten Fallkonstellationen, die dadurch geprägt sind, dass die Richtlinie 2004/38/EG ihnen kein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat vermittelt, ein solches Recht unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV ableiten können. Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährt diesem Personenkreis nicht nur ein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Wohnsitznahme, sondern vermittelt ihnen auch Freizügigkeit. Diese Freizügigkeit steht auf einer Stufe mit den Freizügigkeitsrechten aus der Richtlinie 2004/38/EG und darf in den Voraussetzungen für die Gewährung nicht strenger sein als das Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38/EG, die darauf anzuwenden ist (BVerwG, Urt. v. 23.09.2020 - 1 C 27/19 - Buchholz 451.902 Europ Ausländer- und Asylrecht Nr 123 Rn. 19, Rn. 21 des Besprechungsurteils; vgl. zum Ganzen auch Fleuß, VerwArch 2022, 201, 215 ff. m.w.N.).
Verwandten in aufsteigender Linie, die mangels Unterhaltsgewährung durch den Unionsbürger nicht Familienangehörige i.S.v. Art. 2 Nr. 2 Buchst. d RL 2004/38/EG sind, steht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG ein Aufenthaltsrecht als drittstaatsangehöriger Elternteil eines Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat des Kindes zu, wenn
1. sich der minderjährige Unionsbürger, von dem es abgeleitet wird, in einem anderen Mitgliedstaat aufhält als demjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt,
2. der Drittstaatsangehörige tatsächlich die Sorge für diesen Unionsbürger ausübt und
3. der Unionsbürger aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt ist (EuGH, Urt. v. 10.10.2013 - C-86/12 „Alokpa u.a.“ Rn. 29; EuGH, Urt. v. 08.11.2012 - C-40/11 Rn. 68 f., Rn. 22 f. des Besprechungsurteils; vgl. auch Fleuß, VerwArch 2022, 201, 219 f. m.w.N.).
Das Merkmal der Freizügigkeitsberechtigung des Unionsbürgers aus eigenem Recht gründet in Art. 7 Abs. 2 RL 2004/38/EG, dem zufolge für ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen erforderlich ist, dass die Referenzperson ihrerseits aus eigenem Recht (nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a bis c RL 2004/38/EG) und nicht lediglich aus abgeleitetem Recht (nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/38/EG) freizügigkeitsberechtigt ist (BVerwG, Urt. v. 23.09.2020 - 1 C 27/19 - Buchholz 451.902 Europ Ausländer- und Asylrecht Nr 123 Rn. 27, Rn. 27 des Besprechungsurteils).
Das Bestehen eines eigenständigen Freizügigkeitsrechts im Aufnahmemitgliedstaat bedingt in der Regel unter anderem das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel und eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes i.S.v. Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG, wobei es genügt, wenn diese durch einen Elternteil vermittelt werden (EuGH, Urt. v. 10.10.2013 - C-86/12 Rn. 27; BVerwG, Urt. v. 23.09.2020 - 1 C 27/19 - Buchholz 451.902 Europ Ausländer- und Asylrecht Nr 123 Rn. 31, Rn. 27 des Besprechungsurteils). Das Fehlen ausreichender Existenzmittel und eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes in der Person des Kindes steht einem abgeleiteten Aufenthaltsrecht des Elternteils aus Art. 21 Abs. 1 AEUV indes dann nicht entgegen, wenn das Kind ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU, Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG erworben hat, da ein solches nicht mehr an die Voraussetzungen des Kapitels III der Richtlinie und insbesondere von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG geknüpft ist (vgl. EuGH, Urt. v. 13.09.2016 - C-165/14 „Rendón Marín“ Rn. 47 und 53; EuGH, Urt. v. 10.03.2022 - C-247/20 Rn. 54 und 60, Rn. 27 des Besprechungsurteils).
VII. Dem Erwerb und Fortbestand eines Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 Abs. 1 AEUV widerstreitet nicht, dass der Drittstaatsangehörige über ein anderweitiges, sei es nationales, sei es unionsrechtliches Aufenthaltsrecht verfügt.
Art. 21 Abs. 1 AEUV vermittelt ein Freizügigkeitsrecht i.S.d. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, auf das die Richtlinie 2004/38/EG entsprechend anwendbar ist. Im Unterschied zu dem Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV, das nur „ausnahmsweise“ bei „Vorliegen ganz besondere(r) Sachverhalte“ besteht, folgt aus Art. 21 Abs. 1 AEUV ein vollwertiges und eigenständiges Recht, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten (BVerwG, Urt. v. 23.09.2020 - 1 C 27/19 - Buchholz 451.902 Europ Ausländer- und Asylrecht Nr 123 Rn. 24), welches nicht von anderweitigen Rechtsregimen oder Erlaubnissen außerhalb der die Freizügigkeit der Unionsbürger regelnden Normen (Art. 21 AEUV und Richtlinie 2004/38/EG) abhängig oder diesen nachrangig ist (Rn. 34 des Besprechungsurteils). Art. 21 AEUV und die Freizügigkeitsrichtlinie begründen ein eigenständiges aufenthaltsrechtliches Rechtsregime für Unionsbürger und ihre – auch drittstaatsangehörigen – Familienangehörigen, das diesen im Interesse der Unionsbürger eine gegenüber anderen Ausländern privilegierte Rechtsstellung zuteilwerden lässt (Rn. 35 des Besprechungsurteils).
Diese Privilegierung hat auch im Verhältnis zu Aufenthaltsrechten aus den Art. 6 oder 7 ARB 1/80 Bestand. Zwar wird der Aufenthalt türkischer Assoziationsberechtigter und ihrer Familienangehörigen ebenfalls privilegiert; deren Rechtsstellung fällt indes in verschiedenen Punkten (etwa bei der Inländergleichbehandlung) hinter derjenigen der freizügigkeitsberechtigten Drittstaatsangehörigen zurück. Die unterschiedlichen Rechtskreise, denen Art. 21 Abs. 1 AEUV und die Richtlinie 2004/348/EG einerseits und das Assoziationsrecht andererseits zuzurechnen sind, schließen es aus, die Freizügigkeitsberechtigung hinter einem Aufenthaltsrecht aus dem ARB 1/80 zurücktreten zu lassen (vgl. Rn. 35 des Besprechungsurteils).
Ebenso wie ein Freizügigkeitsrecht in unmittelbarer Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG nicht voraussetzt, dass dem Betroffenen kein anderweitiges Aufenthaltsrecht zusteht, ist auch das aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgende Freizügigkeitsrecht nicht an eine solche Voraussetzung geknüpft. Dadurch unterscheidet sich das in Art. 21 Abs. 1 AEUV gründende Freizügigkeitsrecht von dem – stets subsidiären – Kernbereichsschutz aus Art. 20 Abs. 1 AEUV (vgl. hierzu EuGH, Urt. v. 30.06.2016 - C-115/15 Rn. 74; EuGH, Urt. v. 27.02.2020 - C-836/18 Rn. 41; zum Ganzen auch Fleuß, VerwArch 2022, 201, 234, 241 f.).