juris PraxisReporte

Anmerkung zu:EuGH 3. Kammer, Urteil vom 30.01.2025 - C-205/23
Autoren:Dr. Annika Kreis, RA'in,
Louis Goral-Wood, Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Erscheinungsdatum:05.09.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 130 OWiG 1968, § 30 OWiG 1968, § 147 StPO, § 170 StPO, EGRL 55/2003, EWGRL 450/84, EGRL 7/97, EGRL 27/98, EGRL 65/2002, EGV 2006/2004, EGRL 29/2005, EGRL 73/2009, EUV 2024/1689, EUV 2022/1925, 12016P052, 12016P050
Fundstelle:jurisPR-Compl 4/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Norbert Nolte, RA
Zitiervorschlag:Kreis/Goral-Wood, jurisPR-Compl 4/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Reichweite des unionsrechtlichen Doppelbestrafungsverbots bei ordnungswidrigkeitenrechtlichen Unternehmensgeldbußen



Tenor

1. Art. 3 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG ist dahin auszulegen, dass es einer nationalen Energieregulierungsbehörde nicht verwehrt ist, im Fall der Feststellung, dass ein Erdgasversorger bei der Änderung des Preises für die Lieferung von Erdgas gegen die Verpflichtung zur Transparenz gegenüber seinen Kunden verstoßen hat, diesen Versorger zu verpflichten, den Preis beizubehalten, der in den ursprünglich mit diesen Kunden geschlossenen Verträgen vereinbart worden ist.
2. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union i.V.m. Art. 52 Abs. 1 dieser Charta ist dahin auszulegen, dass er nicht dem entgegensteht, dass einem Erdgasversorger auf der Grundlage unterschiedlicher nationaler Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2009/73 bzw. der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) zwei Sanktionen auferlegt werden, die als „Sanktionen strafrechtlicher Art für denselben Sachverhalt“ einzustufen sind, vorausgesetzt, dass
- es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den beiden zuständigen Behörden gewährleisten,
- die beiden betreffenden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und
- die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der Verstöße entspricht.



A.
Problemstellung
Unternehmen sind einer Vielzahl unionsrechtlich determinierter – sich teilweise überschneidender – regulatorischer Vorgaben ausgesetzt. Dies birgt das Risiko, dass ein Unternehmen in das Visier mehrerer Behörden gerät, die wegen desselben Sachverhalts parallel Verfolgungsmaßnahmen einleiten und Unternehmensgeldbußen verhängen. Aus Unternehmenssicht stellt sich die Frage, ob und inwieweit mehrfache Verfolgungs- und Sanktionsmaßnahmen, die auf der Umsetzung von Unionsrecht beruhen und denselben Sachverhalt betreffen, durch das unionsrechtliche Doppelbestrafungsverbot nach Art. 50 GRCh („ne bis in idem“) ausgeschlossen sind.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der EuGH hatte infolge eines Vorabentscheidungsersuchens eines rumänischen Gerichts darüber zu entscheiden, ob die doppelte Bebußung eines Erdgasversorgers (Engie Romania SA – Engie) durch die rumänische Verbraucherschutzbehörde (Autoritatea Naționala pentru Protecția Consumatorilor – ANPC) und die rumänische Energieregulierungsbehörde (Autoritatea Naționala de Reglementare in Domeniul Energiei – ANRE) eine Doppelbestrafung nach Art. 50 GRCh darstellt, die nicht nach Art. 52 Abs. 1 GRCh gerechtfertigt ist. Art. 52 Abs. 1 GRCh erlaubt insoweit unter bestimmten Voraussetzungen die Einschränkung der in der GRCh anerkannten Rechte und Freiheiten.
Gegenstand der Bußgeldentscheidungen der ANPC und der ANRE war ein- und derselbe Sachverhalt: Engie hatte seinen Haushaltskunden im Rahmen eines Vertragsangebots einen Erdgaspreis für zwölf Monate zugesichert, kündigte jedoch drei Monate später eine Preisänderung an. Die ANPC erblickte darin eine unlautere Irreführung nach rumänischem Verbraucherschutzrecht, das die EU-Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (RL 2005/29/EG) umsetzt. Sie verhängte im September 2021 eine Unternehmensgeldbuße i.H.v. 30.000 Euro und ordnete die Rückabwicklung der Preisänderung an.
Das infolgedessen von Engie angerufene rumänische Gericht hob den Bußgeldbescheid der ANPC aufgrund fehlender Zuständigkeit der Behörde rechtskräftig auf. Die ANRE qualifizierte dasselbe Vorgehen von Engie als eine Verletzung der Preistransparenzpflicht nach rumänischem Energiewirtschaftsrecht, das die – mittlerweile außer Kraft getretene – EU-Erdgasbinnenmarkt-RL (RL 2009/73/EG) umsetzte. Die ANRE verhängte im Oktober 2021 eine Geldbuße i.H.v. 160.000 Euro gegen Engie und ordnete ebenfalls die Rückabwicklung der Preisänderung an.
Der EuGH gelangt zu dem Ergebnis, dass die doppelte Bebußung Engies dem Grunde nach eine Doppelbestrafung i.S.v. Art. 50 GRCh darstelle, diese aber unter bestimmten – vom vorlegenden Gericht zu prüfenden – Voraussetzungen nach Art. 52 Abs. 1 GRCh gerechtfertigt sein könne.
Zum – nach Art. 50 GRCh vorausgesetzten – Vorliegen von strafrechtlichen Sanktionen betont der EuGH, dass nicht die Einordnung nach nationalem Recht als Straftat maßgeblich sei. Vielmehr bestimme sich dies nach der intrinsischen Natur der Zuwiderhandlung oder der Schwere der Sanktion. Für die intrinsische Natur der Zuwiderhandlung sei zu prüfen, ob die Sanktion auch – unabhängig von einem präventiven Zweck – einen repressiven Zweck verfolge. Maßnahmen, die allein der Wiedergutmachung eines Schadens dienten (in diesem Fall die behördlichen Anordnungen zur Rückabwicklung der Preisänderung), seien demgegenüber nicht-strafrechtlicher Natur. Für die festgesetzten Unternehmensgeldbußen verweist der EuGH zurück an das vorlegende Gericht. Dieses solle feststellen, ob die Geldbußen den für eine strafrechtliche Sanktion i.S.v. Art. 50 GRCh hinreichenden Schweregrad aufweisen.
Im Hinblick auf das Erfordernis einer früheren abschließenden rechtskräftigen Entscheidung („bis“), liegt nach Ansicht des EuGH kein Verstoß gegen Art. 50 GRCh vor, soweit der Bußgeldbescheid der ANPC aufgrund ihrer fehlenden Zuständigkeit rechtskräftig aufgehoben wurde. Dies solle das vorlegende Gericht bewerten. Der Gerichtshof betont zudem, dass es nicht nur irgendeiner rechtskräftigen Entscheidung bedürfe, sondern einer solchen, im Rahmen derer eine Prüfung in der Sache erfolgt sei.
Für die nach Art. 50 GRCh erforderliche Tatidentität („idem“) komme es nach Ansicht des EuGH weder auf die Einordnung der Tat nach nationalem Recht noch auf eine Übereinstimmung der geschützten Rechtsgüter an. Maßgeblich sei allein die materielle Tatidentität. Diese definiert der Gerichtshof als die Gesamtheit der konkreten Umstände, die sich aus im Wesentlichen gleichen Ereignissen ergeben, bei denen dieselbe Person gehandelt hat und die zeitlich sowie räumlich untrennbar miteinander verbunden sind. Dies bejaht der EuGH in diesem Fall, da die Bußgeldentscheidungen auf dieselben Sachverhaltsfeststellungen gestützt worden waren.
Nach Erläuterung der Voraussetzungen von Art. 50 GRCh, befasst sich der EuGH mit der Rechtfertigung einer Einschränkung des Doppelbestrafungsverbots nach Art. 52 Abs. 1 GRCh. Nach Art. 52 Abs. 1 GRCh muss jede Einschränkung der in der GRCh anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Eine hinreichende gesetzliche Grundlage und die Wahrung des Wesensgehalts des Doppelbestrafungsverbots erachtet der EuGH als gegeben, da das rumänische Recht die bloße Möglichkeit einer doppelten Verfolgung und Sanktionierung nach den verschiedenen, die einschlägigen EU-Richtlinien umsetzenden, Rechtsgrundlagen beinhalte.
Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRCh darf das Doppelbestrafungsverbot daneben nur unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden. Die Einschränkung von Art. 50 GRCh muss erforderlich sein und zum Schutz einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung oder von Rechten anderer erfolgen. Der Gerichtshof vertritt insoweit die Auffassung, dass eine Sanktionskumulierung gerechtfertigt sein könne, wenn die Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgen, die verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens beträfen. Behörden seien berechtigt, auf bestimmte für die Gesellschaft schädliche Verhaltensweisen einander ergänzende rechtliche Antworten zu geben, indem in verschiedenen Verfahren unterschiedliche Aspekte desselben gesellschaftlichen Problems behandelt würden, sofern diese Kumulation rechtlicher Reaktionen keine übermäßige Belastung für den Betroffenen darstelle. Darüber hinaus müssen zur Verhältnismäßigkeit einer Einschränkung des Doppelbestrafungsverbots nach Ansicht des EuGH mehrere Voraussetzungen erfüllt sein: Es bedürfe klarer und präziser Regelungen, damit vorhersehbar sei, welche Handlungen einer doppelten Sanktionierung unterlägen. Die Verfahren müssten hinreichend koordiniert und in engem zeitlichem Zusammenhang geführt werden. Zudem sei erforderlich, dass die verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Zuwiderhandlungen entsprächen. Dafür müsse die zuerst verhängte Sanktion bei der zweiten berücksichtigt werden.
Der EuGH bejaht im vorliegenden Fall die Komplementarität der Sanktionszwecke. So diene die von der ANRE durchgesetzte Erdgaspreistransparenzpflicht nicht nur dem – identisch zum von der ANPC verfolgten – Verbraucherschutz. Die Bußgeldentscheidung der ANRE verfolge einen ergänzenden Sanktionszweck, weil sie auch der Liberalisierung des Erdgasbinnenmarkts diene, indem sie Verbrauchern eine freie Versorgerwahl ermögliche. Für die Komplementarität der Sanktionszwecke stellt der EuGH maßgeblich darauf ab, dass die Preistransparenzpflicht des Erdgasversorgers nach Anhang I Abs. 1 Buchst. c Erdgasbinnenmarkt-RL „unbeschadet der Verbraucherschutzvorschriften der Gemeinschaft“ gelte. Daraus schlussfolgert der EuGH, dass die Mitgliedstaaten berechtigt sein müssten, für dieselbe Tat Sanktionen sowohl auf Grundlage sektorspezifischer Regelungen zur Erdgasbinnenmarktliberalisierung als auch auf Basis von Verbraucherschutzvorschriften zu verhängen. Zur Vorhersehbarkeit der doppelten Sanktionierung verweist der EuGH darauf, dass es für einen Energieversorger nicht überraschend sein könne, verschiedenen sektorspezifischen Pflichten mit komplementären Zielsetzungen zu unterliegen. Ein enger zeitlicher Zusammenhang der Verfahren bestehe aufgrund der zeitlichen Nähe der Bußgeldentscheidungen. Die Prüfung, ob die Bußgeldverfahren hinreichend koordiniert wurden, überlässt der EuGH dem vorlegenden Gericht und verweist lediglich darauf, dass die Behörden laut Aktenlage kooperiert und Informationen ausgetäuscht hätten. Zur Frage, ob die gegenüber Engie verhängten Sanktionen der Schwere der Zuwiderhandlungen entsprechen, äußert sich der EuGH nicht.


C.
Kontext der Entscheidung
Zur Reichweite des Doppelbestrafungsverbots nach Art. 50 GRCh und möglichen Einschränkungen nach Art. 52 Abs. 1 GRCh hat sich eine ständige Rechtsprechung des EuGH herausgebildet, die mit der vorliegenden Entscheidung fortgesetzt wird.
Zur Bestimmung des Vorliegens einer strafrechtlichen Sanktion i.S.v. Art. 50 GRCh stellt der EuGH im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung (u.a. EGMR, Urt. v. 08.06.1976 - 5100/71 Rn. 82) fest, dass nicht nur Sanktionen erfasst werden, die nach nationalem Recht formal strafrechtlichen Charakter haben. Erfasst werden vielmehr je nach repressivem Charakter und Schweregrad auch sonstige Sanktionen (EuGH, Urt. v. 05.06.2012 - C-489/10 Rn. 37 ff. „Bonda“). In Mitgliedstaaten, in denen es kein Unternehmensstrafrecht gibt, sind beispielsweise nach ständiger Rechtsprechung des EuGH auch Unternehmensgeldbußen als strafrechtliche Sanktionen i.S.v. Art. 50 GRCh zu qualifizieren, selbst wenn diese formal nach nationalem Recht als ordnungswidrigkeitenrechtliche Sanktion einzustufen sind (für den strafrechtlichen Charakter einer Unternehmensgeldbuße nach den §§ 130, 30 OWiG EuGH, Urt. v. 14.09.2023 - C-27/22 Rn. 76 „VW Group Italia“). An dem strafrechtlichen Charakter ändert nach der bisherigen Rechtsprechung des EGMR zum Doppelbestrafungsverbot auch die etwaige geringe Höhe des Bußgelds nichts (EGMR, Urt. v. 06.10.2020 - 75882/13 Rn. 27 m.w.N.). Insoweit könnte eine Aussage des Gerichtshofs in dem vorliegenden Fall missverstanden werden, nach der der Gerichtshof für die verhängten Bußgelder auf die Notwendigkeit einer Prüfung ihres Schweregrads durch das vorlegende Gericht verweist. Diesem möglichen Missverständnis, dass bis zu einer bestimmten Höhe des Bußgelds der strafrechtliche Sanktionscharakter einer Unternehmensgeldbuße entfällt, tritt aber auch der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen entgegen (GA, Schlussanträge v. 11.07.2024 - C-205/23 Rn. 29 Fn. 19).
Positiv ist, dass der EuGH an einem weiten – unternehmensfreundlichen – Begriff der Identität der materiellen Tat festhält. Der weite Begriff der Tatidentität ist auf die Entscheidungen in den Rechtssachen „bpost“ und „Nordzucker“ zurückzuführen. In diesem Rahmen hat der EuGH den früher von ihm vertretenen engeren Tatbegriff, der auch eine Identität der geschützten Rechtsgüter voraussetzte, aufgegeben (EuGH, Urt. v. 22.03.2022 - C-117/20 Rn. 33 f. „bpost“; EuGH, Urt. v. 22.03.2022 - C-151/20 Rn. 38 „Nordzucker“; zu dieser Entwicklung Klusmann/Schley, NZKart 2022, 264, 266).
Auch die vom EuGH aufgestellten Kriterien zur Einschränkung des Doppelbestrafungsverbots nach Art. 52 Abs. 1 GRCh lassen sich auf eine feste Rechtsprechungslinie zurückführen. Für diese Linie hat der EuGH ursprünglich vom EGMR maßgeblich entwickelte Maßstäbe (EGMR, Urt. v. 15.11.2016 - 24130/11 u. 29758/11 Rn. 132) in den Rechtssachen „Menci“ (EuGH, Urt. v. 20.03.2018 - C-524/15 Rn. 40 ff.), „bpost“ (EuGH, Urt. v. 22.03.2022 - C-117/20 Rn. 40 ff.), „Nordzucker“ (EuGH, Urt. v. 22.03.2022 - C-151/20 Rn. 49 ff.) und „VW Group Italia“ (EuGH, Urt. v. 14.09.2023 - C-27/22 Rn. 87 ff.) auf Art. 50 GRCh übertragen.
Die zentrale Neuerung der vorliegenden Entscheidung ist die Heranziehung einer sog. Unbeschadetheitsklausel zur Begründung der Komplementarität der Sanktionszwecke. Grundsätzlich zielt das Erfordernis der Komplementarität darauf ab, die zusätzliche Beschwer des Betroffenen, die sich aus der Sanktionskumulierung ergibt, zu rechtfertigen (EuGH, Urt. v. 22.03.2022 - C-117/20 Rn. 49). Vor diesem Hintergrund überzeugt es nicht, allein auf die abstrakte gesetzgeberische Anordnung eines Nebeneinanders von Rechtsakten abzustellen. Die verschiedenen Verfahren müssen nicht nur abstrakt, sondern im konkreten Einzelfall unterschiedliche, komplementäre Aspekte desselben Fehlverhaltens betreffen (vgl. Krause, NStZ 2025, 9, 18). Nur dann kann die zusätzliche Beschwer des im Einzelfall betroffenen Unternehmens durch komplementäre, d.h. nicht identische, Sanktionszwecke gerechtfertigt sein. Mit der vorliegenden Entscheidung eröffnet der EuGH dem Gesetzgeber Tür und Tor, durch die bloß abstrakte Anordnung eines Nebeneinanders von Pflichten, eine doppelte Sanktionierung zu ermöglichen, selbst wenn die Behörden im Einzelfall identische Sanktionszwecke verfolgen. Der EuGH löst sich damit auch von den strengeren Maßstäben des EGMR, der – richtigerweise – die Notwendigkeit der Verfolgung nicht nur abstrakt, sondern konkret komplementärer Sanktionszwecke betont (EGMR, Urt. v. 15.11.2016 - 24130/11 u. 29758/11 Rn. 132). Vorliegend verfolgten die Behörden im konkreten Einzelfall jedoch einen identischen Sanktionszweck: die Sanktionierung intransparenter Preisgestaltung gegenüber Verbrauchern. Der bloß mittelbare Zusammenhang der ANRE-Sanktion zum – abstrakt komplementären – Ziel der von der Erdgasbinnenmarkt-RL intendierten Marktliberalisierung rechtfertigt nicht die sich aus der Sanktionskumulierung ergebende Belastung im Einzelfall.
Für das Erfordernis hinreichender Koordination zwischen den Behörden nennt der EuGH weder in der vorliegenden Entscheidung noch in seiner bisherigen Rechtsprechungslinie messbare Kriterien. Der Gerichtshof präzisiert bisher nicht, in welchem Umfang die Behörden kooperiert haben müssen, um eine Doppelbestrafung zu rechtfertigen. In der vorliegenden Entscheidung verweist der EuGH nur knapp auf Anhaltspunkte für Kooperationsbemühungen und Informationsaustausch in der Verfahrensakte. Damit ist zumindest klargestellt, dass es eines gewissen Maßes an Verfahrenskoordination bedarf. Dies entspricht der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache „VW Group Italia“, im Rahmen derer er eine Rechtfertigung nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRCh verneinte, da – im betreffenden grenzüberschreitenden Fall – die deutsche und italienische Behörde trotz monatelanger paralleler Verfahrensführung ihre Verfahren nicht koordiniert hatten (EuGH, Urt. v. 14.09.2023 - C-27/22 Rn. 103). In Fällen, in denen die Behörden kooperieren, fehlt es in der bisherigen Rechtsprechung des EuGH jedoch an einem Maßstab zur Bestimmung einer hinreichenden Koordinationstiefe. Ob ein einmaliger Austausch zum Verfahrensstand genügt oder eine Doppelung von Ermittlungsmaßnahmen im Einzelfall eine Rechtfertigung der Doppelbestrafung ausschließen kann (dafür Brueckner/Tzanetis, WuW 2023, 62, 64), bleibt offen.
Auch mit Blick auf das Erfordernis der Anrechnung der Erstsanktion auf die Zweitsanktion – an der der Gerichtshof in dem vorliegenden Fall festhält – bringt die vorliegende Entscheidung keine Klarheit in die bisher uneinheitlich gebliebene Rechtsprechung des Gerichtshofs: Während der EuGH in der Rechtssache „Menci“ noch – zu Recht restriktiv – die Aussetzung der Vollstreckung der Erstsanktion oder zumindest die Anrechnung im Rahmen der Zweitsanktion forderte (EuGH, Urt. v. 20.03.2018 - C-524/15 Rn. 55 f.), verwies er in der Rechtssache „bpost“ darauf, dass eine die Erstsanktion übersteigende Zweitsanktion keinen Schluss auf eine unverhältnismäßige Belastung zulässt (EuGH, Urt. v. 22.03.2022 - C-117/20 Rn. 57). Dennoch erfolgte auch in diesem Fall eine Anrechnung der Erstsanktion. Wiederum in der Rechtssache „VW Group Italia“ stellte der EuGH darauf ab, dass bei einer Zweitsanktion, die (nur) 0,5% der Erstsanktion ausmacht, nicht von einer unverhältnismäßigen Belastung auszugehen sei, auch wenn beide Sanktionen ihren gesetzlichen Bußgeldrahmen voll ausschöpfen (EuGH, Urt. v. 14.09.2023 - C-27/22 Rn. 97). Diese – insoweit wenig überzeugende – Entscheidung wird man wohl als Ausnahmefall qualifizieren müssen, bei dem eine – im Verhältnis zu einer sehr hohen Erstsanktion (1 Mrd. Euro) – wesentlich niedrigere Zweitsanktion (5 Mio. Euro) trotz Ausschöpfung ihres gesetzlichen Bußgeldrahmens ihrem Gewicht nach von nur untergeordneter Bedeutung war. Grundsätzlich dürfte in solchen Fällen hingegen eine unverhältnismäßige und daher verbotene Doppelbestrafung vorliegen (so auch v. Graevenitz, EuZW 2023, 1051).
Mit Blick auf die Höhe der Zweitsanktion ist die Behörde zwecks Wahrung der Verhältnismäßigkeit der doppelten Sanktionierung nach Art. 52 Abs. 1 GRCh verpflichtet, die Gesamtbußgeldlast für das Unternehmen auf ein Minimum zu reduzieren. Sie muss die Erstsanktion anrechnen. Die uneinheitliche Rechtsprechung des EuGH bedeutet keine Abkehr von dem Erfordernis der Anrechnung der Erstsanktion. Hieran hält auch die vorliegende Entscheidung – ungeachtet der fehlenden Stellungnahme des EuGH zur Gesamtsanktionshöhe im Einzelfall – fest.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die vorliegende Entscheidung ist nur bedingt begrüßenswert. Zwar legt der EuGH – im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung – Art. 50 GRCh sowohl im Hinblick auf den Begriff der Tatidentität als auch auf das Erfordernis einer vorhergehenden rechtskräftigen Entscheidung weit aus. Jedoch zeigt die Entscheidung erneut, dass der EuGH keine hohen Hürden an eine – nach Art. 52 Abs. 1 GRCh gerechtfertigte – Doppelbestrafung stellt. Das Doppelverfolgungsverbot wird vielmehr faktisch ausgehebelt. So können die Kriterien der Verfahrenskoordination und der Gesamtsanktionshöhe zur Einschränkung des Doppelbestrafungsverbots denklogisch erst bei einer nachträglichen Prüfung virulent werden, die sich an eine bereits ergangene Zweitsanktion anschließt (so auch Horstkotte/Jannausch, IWRZ 2022, 147, 152). Auch im Übrigen vermögen die diesbezüglich vom EuGH aufgestellten Kriterien zur Einschränkung des Doppelbestrafungsverbots aufgrund ihrer Unbestimmtheit nicht zu überzeugen. Sie höhlen den unionsrechtlichen „ne bis in idem“-Grundsatz auf Rechtfertigungsebene bedenklich weit aus. Diese Rechtsprechungslinie trifft in der Literatur zu Recht auf scharfe Kritik, die mitunter von einer „Demontage des ne-bis-in-idem-Grundsatzes“ (Wegner, NZWiSt 2023, 401, 408) spricht.
Aus Unternehmenssicht erhöhen die vom EuGH angelegten Maßstäbe das Risiko, bei der Umsetzung unionsrechtlich determinierter Vorgaben doppelten Verfolgungs- und Sanktionsmaßnahmen verschiedener Behörden in Bezug auf denselben Sachverhalt ausgesetzt zu sein. Dieses Risiko erhöht sich insbesondere für Unternehmen, die – sich aus einem Nebeneinander von Unionsrechtsakten ergebenden – überschneidenden Pflichtenlagen unterliegen, für die der Gesetzgeber ausdrücklich eine unbeschadete Geltung im Verhältnis zueinander angeordnet hat. Solche Unbeschadetheitsklauseln finden sich in jüngerer Zeit insbesondere in Rechtsakten der EU-Digitalgesetzgebung (eingehend mit vielzähligen Beispielen Steinrötter, GRUR 2023, 216, 217), z.B. im Verhältnis zwischen der DSGVO und der KI-VO (vgl. Art. 2 Abs. 7 Satz 2 KI-VO; zum Risiko einer Doppelbestrafung Schefzig in: BeckOK KI-Recht, Stand: 01.05.2025, Art. 99 KI-VO Rn. 29 ff.) oder im Verhältnis zwischen Wettbewerbsrecht und DMA (vgl. Art. 1 Abs. 6 DMA; zum Risiko einer Doppelbestrafung Kumkar in: FK Kartellrecht, 110. Erg.-Lfg. 2/2025, Art. 1 DMA Rn. 59 ff.).
Ungeachtet der – kritikwürdigen – Weite der Rechtsprechung des EuGH zu den Art. 50, 52 Abs. 1 GRCh bestehen aus Unternehmenssicht Verteidigungsansätze, die bei drohender doppelter Verfolgung bzw. Sanktionierung im Blick behalten werden sollten:
Die Unternehmensverteidigung sollte darauf hinwirken, dass im Rahmen der Erstsanktion – bei drohender Zweitsanktion – möglichst umfangreiche Feststellungen zum sanktionierten Lebenssachverhalt erfolgen. Die Beschreibung einzelner Verhaltensweisen sollten im Rahmen der Bußgeldentscheidung einen untrennbaren Lebenssachverhalt erkennen lassen, um den Anforderungen des EuGH zum Vorliegen materieller Tatidentität zu genügen (eingehend Krause, NStZ 2025, 9, 19 f.).
Daneben ist aus Verteidigungssicht auch das vom EuGH aufgestellte Gebot hinreichender Verfahrenskoordination – trotz seiner Unbestimmtheit – nicht zu unterschätzen (so auch im Kontext grenzüberschreitender doppelter Sanktionierung Michaelis/Kroner, jurisPR-Compl 5/2023 Anm. 5). Erfolgt keine ausreichende Zusammenarbeit zwischen den Behörden – über deren Umfang die Unternehmensverteidigung mittels Akteneinsicht nach § 147 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG Auskunft erlangen kann –, die die aus der doppelten Verfolgung resultierende Belastung auf ein Minimum reduziert, kann eine nicht zu rechtfertigende Verletzung von Art. 50 GRCh vorliegen.
Nicht Gegenstand der vorliegenden Entscheidung, aber umso bedeutsamer für die Praxis, ist die Frage nach der Erfassung verfahrensabschließender Entscheidungen vom Schutzbereich des Doppelbestrafungsverbots. So ist anerkannt, dass verfahrensabschließende gerichtliche Entscheidungen Art. 50 GRCh unterfallen, solange sie auf einer materiellen Prüfung in der Sache beruhen (so schon EuGH, Urt. v. 15.10.2002 - C-238/99 P u.a. Rn. 61 f.). Dabei ist unerheblich, ob die Entscheidungsgründe nach nationalem Recht als solche verfahrens- oder materiell-rechtlicher Natur qualifiziert werden. Auch nicht-richterliche verfahrensabschließende Entscheidungen, wie behördliche Einstellungsentscheidungen, können Art. 50 GRCh unterliegen. Dafür muss die Einstellungsentscheidung auf einer Prüfung von Beweismitteln beruhen und eine endgültige Entscheidung dahin gehend enthalten, dass diese Beweise für eine weitere Verfolgung nicht ausreichen (EuGH, Urt. v. 05.06.2014 - C-398/12 Rn. 30; vgl. Horstkotte/Jannausch, IWRZ 2022, 147, 148). Daher sind – nach umstrittener, aber richtiger Auffassung – auch Einstellungsentscheidungen nach § 170 Abs. 2 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG, die nach nationalem Recht gerade keinen Strafklageverbrauch begründen, rechtskräftige abschließende Entscheidungen i.S.v. Art. 50 GRCh (dafür BVerfG, Beschl. v. 19.05.2022 - 2 BvR 1110/21 Rn. 48; Oehmichen, jurisPR-StrafR 2/2024 Anm. 3; dagegen Hochmayr in: FK EUV/GRC/AEUV, 2. Aufl. 2023, Art. 50 GRCh Rn. 22).



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