Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Schuldnerin zahlte die – am drittletzten Bankarbeitstag – fälligen Sozialversicherungsbeiträge für den Monat Februar 2020 zunächst nicht. Daher erließ der betroffene Sozialversicherungsträger Anfang März 2020 einen Beitragsbescheid (mit Rechtsmittelbelehrung) mit dem Betreff „Bitte denken Sie an Ihre Beitragszahlung“, welcher eine Aufforderung zur Zahlung der entsprechenden Sozialversicherungsbeiträge nebst Säumniszuschlag und Mahngebühren in Höhe von rund 30.000 Euro bis zum 12.03.2020 enthielt. Hierin hieß es u.a.:
„[...] die Sozialversicherungsbeiträge für Ihr Beitragskonto sind bisher nicht oder nicht vollständig bei uns eingegangen. Bitte überweisen Sie den Gesamtbetrag bis zum […]. Andernfalls müssten wir die Beiträge im Rahmen der Zwangsvollstreckung einziehen lassen. Dies wäre mit weiteren Kosten für Sie verbunden. […] Wenn Sie mit diesem Bescheid nicht einverstanden sind, beachten Sie bitte unseren Hinweis am Ende des Schreibens. [...]“
Am 17.03.2020 zahlte die Schuldnerin den rückständigen Gesamtbetrag betreffend den Beitragsmonat Februar 2020.
Unter dem 05.06.2020 stellte die Schuldnerin einen Eigenantrag über ihr Vermögen. Hieraufhin wurde Anfang August 2020 das Insolvenzverfahren eröffnet. In der Folgezeit nahm der Insolvenzverwalter den Sozialversicherungsträger im Wege der Deckungsanfechtung wegen Inkongruenz auf Rückerstattung dieses Betrags nebst Zinsen an die Masse in Anspruch.
In den ersten beiden Instanzen war der Insolvenzverwalter erfolglos. In der letzten Instanz hatte er hingegen Erfolg. Der BGH hob die zweitinstanzliche Entscheidung des OLG auf und verwies die Sache – mangels Entscheidungsreife – zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück.
Kontext der Entscheidung
Anfechtbar ist eine Rechtshandlung, die einem Insolvenzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht hat, wenn die Handlung innerhalb des dritten Monats vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden ist und der Schuldner zur Zeit der Handlung zahlungsunfähig war. Dies allerdings nur, wenn der Gläubiger zu dieser Zeit die Zahlungsunfähigkeit kannte (sog. kongruente Insolvenzanfechtung nach § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO) oder wenn die Sicherung oder Befriedigung in einer Weise gewährt oder ermöglicht wurde, die der Insolvenzgläubiger nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte (sog. inkongruente Insolvenzanfechtung nach § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO).
Im vorliegenden Fall erfolgte die streitgegenständliche Zahlung innerhalb des Drei-Monats-Zeitraums. Problematisch war allerdings die Einordnung als kongruent oder als inkongruent.
Eine kongruente Deckung liegt vor, wenn ein Insolvenzgläubiger genau das erhalten hat, was er zu beanspruchen hatte; demgegenüber liegt eine inkongruente Deckung vor, wenn der Gläubiger eine Befriedigung bzw. Sicherung erhält, auf die er keinen Anspruch hatte oder die er nicht in der Art oder zu der Zeit, in der sie erfolgte, zu beanspruchen hatte (vgl. Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 130 Rn. 5). Unter anderem ist hierbei eine im Wege der Zwangsvollstreckung erlangte Sicherheit oder Befriedigung als inkongruent anzusehen (vgl. BGH, Urt. v. 23.03.2006 - IX ZR 116/03 - NZI 2006, 397 Rn. 9 m.w.N.). Dies gilt auch, wenn der Schuldner in der Krise zur Vermeidung einer unmittelbar bevorstehenden Zwangsvollstreckung geleistet hat (vgl. u.a. BGH, Urt. v. 09.01.2014 - IX ZR 209/11 - NZI 2014, 262 Rn. 37 m.w.N.).
Der Einschätzung der Vorinstanzen, wonach das o.g. Schreiben des Sozialversicherungsträgers bei der gebotenen Gesamtschau nicht über eine einfache Mahnung hinausgehe und nicht zwangsläufig die Erwartung hätte hervorrufen müssen, dass die Zwangsvollstreckung umgehend stattfinde, überzeugte den BGH nicht. Im Gegenteil: Der BGH bejahte im Hinblick auf dieses Schreiben den nach § 131 InsO erforderlichen Vollstreckungsdruck. Hierzu hob er noch einmal hervor, dass der Schuldner in diesem Sinne unter dem Druck einer unmittelbar bevorstehenden Zwangsvollstreckung leistet, wenn der Gläubiger zum Ausdruck gebracht hat, dass er alsbald die Mittel der Zwangsvollstreckung einsetzen werde, sofern der Schuldner die Forderung nicht erfülle; dies beurteilt sich aus der objektivierten Sicht des Schuldners (BGH, Urt. v. 28.04.2022 - IX ZR 48/21 - NZI 2022, 733 Rn. 48 m.w.N.). Hierfür ist Voraussetzung, dass der Schuldner damit rechnen muss, der Gläubiger werde nach dem kurz bevorstehenden Ablauf einer letzten Zahlungsfrist mit der ohne weiteres zulässigen Zwangsvollstreckung sofort beginnen (vgl. BGH, Urt. v. 28.04.2022 - IX ZR 48/21 - NZI 2022, 733 Rn. 48 m.w.N.). Dabei kann selbst eine Formulierung genügen, die dies zwar nicht ausdrücklich androht, ein derart geplantes Vorgehen aber „zwischen den Zeilen“ deutlich werden lässt (vgl. BGH, Urt. v. 07.03.2013 - IX ZR 216/12 - NZI 2013, 492 Rn. 13 m.w.N.).
Überträgt man diese abstrakten Grundsätze auf den konkreten Fall, ist objektiv zunächst festzustellen, dass der Sozialversicherungsträger im Streitfall mit seinem Bescheid die Voraussetzungen für eine zwangsweise Durchsetzung ihrer Forderung gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB X, § 3 Abs. 3 VwVG gegen die Schuldnerin herbeiführte und sich hiermit neben der Option, die Zwangsvollstreckung wie ein sonstiger Gläubiger nach der Zivilprozessordnung zu veranlassen (§ 66 Abs. 4 Sätze 1 und 2 SGB X), vor allem unmittelbar die Möglichkeit, den eigenen Leistungsbescheid aufgrund eigener Vollstreckungsanordnung durch eigenes Personal als Vollstreckungsbeamte gemäß § 66 Abs. 1 Satz 3 SGB X zu vollstrecken, schuf. Dementsprechend hatte die Schuldnerin bereits nach ihrer objektivierten Sicht schon allein aufgrund der ihr gesetzten Frist zur Zahlung in dem Bescheid in Verbindung mit der gleichzeitigen Ankündigung, anderenfalls müsste der Sozialversicherungsträger die Beiträge im Rahmen der Zwangsvollstreckung einziehen, mit der Möglichkeit zu rechnen, der Sozialversicherungsträger werde nach Ablauf der Frist sofort und ohne weitere Zwischenschritte mit der Zwangsvollstreckung beginnen. Daran ändert auch die freundliche Formulierung des Bescheids einschließlich des Betreffs, der zunächst an eine bloße erste Zahlungserinnerung denken lassen mag, ebenso wenig etwas wie der Umstand, dass Fristsetzung und Vollstreckungsandrohung in einen längeren Text eingekleidet waren.
Entscheidend war für den BGH vielmehr, dass das Schreiben mit der Fristsetzung und dem damit verbundenen Hinweis auf die Zwangsvollstreckung nicht nur einen bloß unverbindlichen Hinweis auf theoretisch mögliche Folgen einer nicht fristgemäßen Zahlung enthielt, sondern bereits die Formulierung des Textes die Zahlungsfrist („bis zum 12. März 2020“) mit der Vollstreckungsankündigung („Andernfalls“) verknüpfte, so dass die Schuldnerin gerade nicht mehr davon ausgehen konnte, dass es vor einem Beginn der Zwangsvollstreckung zunächst noch weitere Mahnungen oder Vollstreckungsandrohungen geben werde. Dieses Verständnis wurde auch durch die Widerspruchsbelehrung ergänzt, in der darauf hingewiesen wird, dass ein Widerspruch keine zahlungsaufschiebende Wirkung habe.