juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BGH 6. Zivilsenat, Beschluss vom 01.07.2025 - VI ZR 357/24
Autor:Frank-Georg Pfeifer, RA
Erscheinungsdatum:18.12.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 522 ZPO, § 296a ZPO, § 544 ZPO, § 531 ZPO, § 67 ZPO
Fundstelle:jurisPR-MietR 25/2025 Anm. 1
Herausgeber:Norbert Eisenschmid, RA
Zitiervorschlag:Pfeifer, jurisPR-MietR 25/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Schadensersatzklage wegen Sturz infolge Eisglätte



Leitsätze

1. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist verletzt, wenn offenkundig unrichtig überhöhte Anforderungen an die Substantiierungspflicht zum Vorliegen einer die Streupflicht auslösenden allgemeinen Glätte gestellt werden.
2. Ein in zweiter Instanz konkretisiertes Vorbringen ist dann nicht neu i.S.v. § 531 Abs. 2 ZPO, wenn ein bereits schlüssiges Vorbringen aus erster Instanz durch weitere Tatsachenbehauptungen zusätzlich konkretisiert, verdeutlicht oder erläutert wird.
3. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der die Räum- und Streupflicht Verletzende und für die Sicherheit eines Verkehrswegs Verantwortliche durch die Pflichtverletzung die maßgebliche Ursache für einen Unfall setzt, der sich infolge der nicht beseitigten Gefahrenlage ereignet. Ein die Haftung des Verkehrssicherungspflichtigen ausschließender, weit überwiegender Verursachungsbeitrag des Geschädigten kann nur angenommen werden, wenn das Handeln des Geschädigten von einer ganz besonderen, schlechthin unverständlichen Sorglosigkeit gekennzeichnet ist.



A.
Problemstellung
Der BGH hat sich mit einer Schadensersatzklage wegen behaupteter Verletzung der Streupflicht eines Grundstückseigentümers bei allgemeiner Glätte befasst und ist dabei insbesondere auf die Anforderungen an die Darlegungs- und Substanziierungspflichten sowie der Frage der Gewährung rechtlichen Gehörs nach einem Glatteisunfall eingegangen.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche wegen Verletzung der Streupflicht. Grund dafür ist, dass am 08.02.2021 bei einer Außentemperatur um 0° C die Klägerin gegen 15:15 Uhr auf dem spiegelglatten Bürgersteig vor dem Grundstück des Beklagten gestürzt ist.
Die nach Klageabweisung durch das LG Gießen eingelegte Berufung wurde vom OLG Frankfurt gemäß § 522 Abs. 2 ZPO mangels Schlüssigkeit zurückgewiesen. Denn eine Eisglätte folge nicht schon aus einer Temperatur von 0° C. Zudem fehle klägerischer Vortrag, warum von einer allgemeinen Eisglätte auszugehen gewesen sei, zumal es an jedwedem Vorbringen zur allgemeinen Wetterlage fehle. Das erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung erfolgte Vorbringen der Klägerin, die Temperaturen hätten „hessenweit unter dem Gefrierpunkt“ gelegen, habe das Landgericht zu Recht gemäß § 296a ZPO nicht berücksichtigt. Denn dieses Vorbringen sei bereits bei Klageerhebung veranlasst gewesen; auch dessen Wiederholung in der Berufung sei gemäß § 531 Abs. 2 ZPO nicht zu berücksichtigen (Rn. 3 des Beschl.).
Unabhängig davon bejahte das OLG Frankfurt ein die Haftung des Beklagten ausschließendes Mitverschulden der Klägerin. Sie habe bei der gebotenen Achtsamkeit in eigenen Angelegenheiten bereits vor Betreten der Eisfläche damit rechnen müssen, dass diese sehr glatt gewesen sei (Rn. 4).
Der BGH hat auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin die Sache gemäß § 544 Abs. 9 ZPO an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Dieses habe mit dem Argument fehlender Schlüssigkeit den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör entscheidungserheblich verletzt (Rn. 6 des Beschl.). Denn die Anforderungen an die Substanziierung des Parteivortrags dürften nicht überspannt werden (Rn. 10).
1. Die Angabe näherer Einzelheiten sei entbehrlich, wenn das Gericht aufgrund des Parteivorbringens entscheiden könne, ob die Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen (Rn. 11).
Die Klägerin habe schon vor der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass am Unfalltag „mit einer Temperatur um 0° C Glättebildung vorlag“; dazu habe sie Beweis durch Einholung eines meteorologischen Gutachtens angeboten.
Damit, so der BGH weiter, habe sie sich nicht auf einen Vortrag zu den Außentemperaturen beschränkt, sondern ‒ wie der Antrag auf ein Gutachten zeige ‒ eine allgemeine Glättebildung behauptet. Für die Schlüssigkeit der Klage sei Vortrag dazu, welche Parameter neben den Temperaturen um den Gefrierpunkt zu der behaupteten allgemeinen Glätte geführt hätten, nicht erforderlich gewesen (Rn. 12).
2. Die von der Klägerin im nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 23.05.2023 „erneut“ unter Beweis gestellte sowie in der Berufungsbegründung „wiederholte“ Behauptung, die Temperaturen hätten am 08.02.2021 „hessenweit unter dem Gefrierpunkt“ gelegen und es habe unter anderem „seit Tagen Glatteisbildung geherrscht“, habe das OLG Frankfurt unter „offenkundig fehlerhafter Anwendung einer Präklusionsvorschrift“ als gemäß § 531 Abs. 2 ZPO nicht berücksichtigungsfähig angesehen und damit den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt (Rn. 13).
Denn sie habe bereits schlüssiges Vorbringen aus erster Instanz zur allgemeinen Glättebildung am Unfalltag durch weitere Tatsachenbehauptungen zusätzlich konkretisiert, so dass dieses Vorbringen nicht neu i.S.v. § 531 Abs. 2 ZPO sei (Rn. 14).
3. Anders als das OLG Frankfurt verneint der BGH ein die Haftung des Beklagten ausschließendes überwiegendes Mitverschulden der Klägerin. Dieses können nur bei „schlechthin unverständlicher Sorglosigkeit“ (Rn. 19) der Klägerin angenommen werden (Verweis auf BGH, Urt. v. 20.06.2013 - III ZR 326/12 Rn. 27 - Grundeigentum 2013, 1064). Zur Verdeutlichung verweist der erkennende Senat auf sein Urt. v. 20.11.1984 (VI ZR 169/83 Rn. 15 - NJW 1985, 482, 483), wo der klagende Geschädigte sich bewusst und ohne Not auf eine erkennbar spiegelglatte Eisfläche begeben habe, und zwar ohne zuvor einen der Verkehrssicherungspflichtigen „zu bitten, die Eisfläche zu bestreuen“.
4. Mit seinem Argument, die Klägerin habe bereits vor Betreten der Eisfläche „damit rechnen müssen“, dass diese sehr glatt gewesen sei, sei das Oberlandesgericht „rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass die bloße Erkennbarkeit der Eisglätte genüge“, den Verursachungsbeitrag des Schädigers vollständig zurücktreten zu lassen. Entscheidungserheblich sei dieser Fehler, weil die Klägerin nach den tatbestandlichen Feststellungen des Oberlandesgerichts, als sie bemerkt habe, dass die Fläche glatt gewesen sei, schon ausgerutscht sei.
Sie habe die Glätte also nicht schon vor (!) dem Betreten der Eisfläche erkannt, sondern erst, als sie sich auf dieser befunden habe (Rn. 21).


C.
Kontext der Entscheidung
Gegen den methodisch und argumentativ geradezu lehrbuchhaft vorbildlichen Beschluss des BGH ist nichts zu erinnern.
1. Zu Recht hält der BGH dem OLG Frankfurt unter anderem vor, die Zurückweisung des detaillierten klägerischen Sachvortrags zu den „hessenweit unter dem Gefrierpunkt“ liegenden Temperaturen habe infolge der „offenkundig fehlerhafte Anwendung“ der Präklusionsvorschrift des § 531 Abs. 2 ZPO die Klägerin in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt (Rn. 13).
2. Den Ausführungen des OLG Frankfurt zu einem mitwirkenden Verschulden der Klägerin, welches infolge eines überwiegenden Verursachungsbeitrags die Haftung des Verkehrssicherungspflichtigen ausschließe, hat der BGH die höchstrichterlich entwickelten Grundsätze zum haftungsausschließenden Mitverschulden gegenübergestellt. Er hat hierzu auf mehrere Urteile des BGH verwiesen (beispielsweise BGH, Urt. v. 20.06.2013 - III ZR 326/12 Rn. 27 - VersR 2013, 1322; BGH, Urt. v. 17.03.2009 - VI ZR 166/08 Rn. 22 - VersR 2009, 693 und BGH, Urt. v. 20.11.1984 - VI ZR 169/83 Rn. 15 - NJW 1985, 482, 483), welche wiederum auf etliche weitere Judikate zurückgreifen. Die aus diesem Fächer an Spruchmaterial entnehmbaren Leitlinien habe das Oberlandesgericht mit dem Bejahen eines überwiegend mitwirkenden Verschuldens der Klägerin grundlegend verkannt (Rn. 18, 19 und 20).
Hätte sich das Oberlandesgericht etwa mit dem vorzitierten Urteil des BGH vom 20.11.1984 (VI ZR 169/83 Rn. 16) auseinandergesetzt, hätte dies Anlass zu der rechtlichen Prüfung gegeben, dass nach den festgestellten Tatsachen in eine Abwägung der Verursachungsbeiträge hätte mit einfließen müssen, ob ggf. die Beklagten ihrerseits „in hohem Maße sorglos gewesen“ seien.
3. Weiter habe das Oberlandesgericht aus dem klägerischen Vortrag zur Eisglätte rechtsfehlerhaft den falschen Schluss gezogen, bei „gebotener Achtsamkeit in eigenen Angelegenheiten“ habe die Klägerin bereits vor Betreten der Eisfläche „damit rechnen müssen“, dass diese sehr glatt gewesen sei, was ‒ so das Oberlandesgericht ‒ den Verursachungsbeitrag des Schädigers gegenüber dem Verursachungsbeitrag des Geschädigten vollständig zurücktreten lasse. Demgegenüber ‒ so der BGH ‒ habe die Klägerin die Glätte nicht schon vor dem Betreten der Eisfläche erkannt, sondern erst, als sie sich auf dieser befunden habe (Rn. 21).


D.
Auswirkungen für die Praxis
In vergleichbaren Fällen empfiehlt es sich zunächst, den obigen BGH-Beschluss quasi als Arbeitsschema zugrunde zu legen. Da im entschiedenen Fall die Frage des meteorlogischen Gutachtens eine Schlüsselrolle spielte, sollte jede Partei nach eigener Einschätzung die Einholung eines solchen Gutachtens beantragen; allein, um die eigenen Argumente auf ein sicheres Fundament zu stellen. Es ist sodann je nach den Einzelumständen ‒ sowie unter Abwägung der Prozess- und Kostenrisiken ‒ zu erwägen, dass mögliche Begleitpersonen des Geschädigten (vgl. Rn. 2 des BGH-Beschl.) als Nebenintervenient dem Streit beitreten. Damit steht dem Streithelfer, anders als einem Zeugen, das Recht des eigenen Sachvortrags zu, § 67 ZPO. Beispielsweise kann der Streithelfer „grundsätzlich auch von dem Recht auf Ablehnung eines Sachverständigen Gebrauch machen“ (OLG München, Beschl. v. 23.07.2025 - 9 W 808/25 Bau e Rn. 11).


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Zutreffend hat der BGH daran festgehalten (Rn. 22), das OLG Frankfurt habe mit seinen Ausführungen, welche Schlüsse die Klägerin aus der Ortssatzung zum Streugut (wie Splitt, Sand, Asche, vgl. Rn. 4) hätte ziehen müssen, die Anforderungen an die Klägerin zur Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten überspannt. Führt man die Argumentation des OLG betr. Streugut und Ortssatzung konsequent weiter, wäre zur Winterzeit bei Schneefall usw. von jedem auswärtigen Besucher einer Stadt zu verlangen, sich zunächst in die Ortssatzung zu vertiefen, bevor er als Fußgänger die Gehwege benutzt.



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