Zur Befugnis einer Pflegekraft zur Gestattung des unbeaufsichtigten Duschens eines suizidgefährdeten Patienten auf der geschlossenen psychiatrischen Station ohne vorherige Rücksprache mit einem Arzt und zur Kausalität einer Pflichtverletzung für den eingetretenen Suizid.
- A.
Problemstellung
Das OLG Köln hat sich mit der Frage befasst, inwiefern ein psychiatrisches Krankenhaus für den Suizid eines Patienten haftet, wenn eine Pflegekraft der geschlossenen psychiatrischen Station es dem suizidgefährdeten Patienten ohne vorherige Rücksprache mit einem Arzt gestattet hatte unbeaufsichtigt zu duschen und er beim Duschen Selbstmord begeht.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der als Pflegekraft in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie arbeitende P. hatte wegen beruflicher und privater Probleme mittels 1,4 Liter Kräuterlikör und ungefähr 50 (!) Tabletten des Betablockers Metoprolol einen Suizidversuch unternommen, der allerdings durch die Ehefrau rechtzeitig entdeckt und zu einem Aufenthalt auf der Intensivstation eines Universitätsklinikums führte. Das dort durchgeführte psychiatrische Konzil kam zu dem Ergebnis eines Nichtvorliegens einer depressiven Erkrankung und einer endgültig beabsichtigten Selbstmordhandlung. Die Notwendigkeit einer Zwangseinweisung nach dem PsychKG wurde ebenfalls verneint.
P. begab sich dennoch freiwillig zeitnah abends in das Fachkrankenhaus für Psychiatrie der Beklagten. Dort schilderte er im Aufnahmegespräch die Lebenssituation (u.a. Überforderung am Arbeitsplatz etc.) und dass er auf der Intensivstation verschiedene Selbstmordvarianten gedanklich durchgespielt habe. Zudem habe er als psychiatrische Fachkraft gewusst, was er anlässlich des psychiatrischen Konzils im Uniklinikums zur Vermeidung einer Unterbringung zu erzählen habe.
P. wurde freiwillig auf der Akutstation aufgenommen und engmaschig durch das Pflegepersonal beobachtet. Am Morgen bat er darum, duschen zu können. Dies wurde ihm durch die Pflegekräfte erlaubt. Einige Zeit später wurde er in der Duschkabine leblos aufgefunden, der Schlauch des Duschkopfes befand sich um seinem Hals. Trotz Reanimierungsmaßnahmen verstarb er.
Das LG Aachen lehnte Ansprüche der Hinterbliebenen ab.
Das OLG Köln hat die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Landgerichts zurückgewiesen.
Zwar habe ein psychiatrischer Sachverständiger einen Behandlungsfehler im erstinstanzlichen Prozess bejaht: P. hätte vor dem Duschen noch einmal ärztlicherseits untersucht werden müssen oder eine ärztliche Erlaubnis des unbeaufsichtigten Duschens hätte eingeholt werden müssen. Die Duscherlaubnis ohne Arztabsprache durch die Pflegekräfte sei daher eine Pflichtverletzung.
Eine Kausalität zwischen dieser Pflichtverletzung und dem eingetretenen Schaden sei aber nach Meinung beider Gerichte zu verneinen. Auch eine ärztliche Beurteilung hätte nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit eine eindeutige und akute Selbstmordgefährdung ergeben, die zu einer zumindest beaufsichtigten Körperpflege und damit einem Verhindern des Suizids geführt hätte. Auch mögliche Beweislastumkehrungen unter den Gesichtspunkten der unterlassenen Befunderhebung oder des groben Behandlungsfehlers scheiden nach Ansicht beider Gerichte aus.
- C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung des OLG Köln hat in der Literatur Zustimmung erhalten (vgl. Castendiek, MedR 2025, 630).
In der Tat ist es für die Patientenseite schwierig, den erforderlichen Kausalitätsnachweis zu erbringen. Retrospektiv betrachtet wird sich dieser hier auch nicht führen lassen. Insofern kann ein Obsiegen nur durch eine konsequente Anwendung der Beweislastregeln des § 630h Abs. 5 BGB bzw. eine umfassende Überprüfung des Vorliegens der gesetzlichen Prämissen erfolgen. Diese Konsequenz lässt das OLG Köln jedoch vermissen und umschifft das Problem zulasten des Patienten, ohne tiefer in die Materie einzutauchen, sich mit dem Sachverhalt genauer auseinanderzusetzen, die Ausführungen des Sachverständigen in allen Facetten zu beleuchten und daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen.
Zwar hat das Gericht das Vorliegen einer unterlassenen Befunderhebung durch die Behandlerseite thematisiert und zunächst eine solche angenommen, indem es von einer „gebotenen psychiatrischen Abklärung“ ausgegangen ist, die ja nicht stattgefunden hat. Es hat jedoch das Vorliegen der weiteren gesetzlichen Voraussetzung verneint, nämlich dass der Befund mit einer „hinreichenden Wahrscheinlichkeit“ zu einem reaktionspflichtigen Ergebnis geführt hätte. Nach seiner ständigen Rechtsprechung ist hierunter eine Wahrscheinlichkeit von „mehr als 50%“ zu verstehen, was sicherlich ein vertretbarer Ansatzpunkt ist. Allerdings, so das OLG Köln, habe der psychiatrische Sachverständige im Verfahren die beiden Möglichkeiten der ärztlichen Einschätzung – akute oder nicht akute Selbstmordgefährdung – gleich wahrscheinlich bewertet. Er habe keine Gründe gesehen und benannt, die mehr für die eine oder die andere Möglichkeit gesprochen hätten.
Diese Begründung begegnet jedoch erheblichen Bedenken. So stellte der BGH bereits 1993 fest, dass das erkennende Gericht bei „sich aufdrängenden Zweifeln“ von Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen „diesen weiter nachzugehen hat“ (BGH, Urt. v. 19.01.1993 - VI ZR 60/92).
Das LG Aachen hatte mit seiner Beweisaufnahme die Einnahme von 1,4 Liter Kräuterlikör und die Einnahme von ca. 50 Tabletten des Betablockers Metoprolol für die richterliche Bewertung zugrunde gelegt. Das Medikament „Metoprolol“ wird zur Senkung des Blutdruckes und der Herzfrequenz verwendet, weil es die sog. Betarezeptoren des Herzens blockiert; deswegen die umgangssprachlich bekannte Bezeichnung „Betablocker“. Die maximal zulässige Tagesdosis liegt bei Herzerkrankungen bei 100 mg; üblich sind Darreichungsformen von 50 mg pro Tablette, auf dem Markt gibt es auch 100 mg (vgl. die „Gelbe Liste“,
https://www.gelbe-liste.de/wirkstoffe/Metoprolol_455#Wirkmechanismus, zuletzt abgerufen am 15.12.2025).
Der verstorbene Patient P. hat ca. 50 der betreffenden Tabletten eingenommen. Dieses sind bei 50 mg pro Tablette 2.500 mg, also das 25-fache der Tagesdosis! Es liegt auf der Hand, dass P. angesichts seiner medizinischen Vorkenntnisse über die Wirkungsweise von Metoprolol informiert gewesen war und dass er deswegen zur Beendigung seines Lebens gezielt und zweckgerichtet die hohe Dosis mit diesem Wirkstoff ausgewählt haben könnte. Er hat eben nicht irgendein Medikament genommen. Jenes spricht deshalb überwiegend für die Annahme einer akuten Suizidalität, zumal P. gegenüber den Psychiatern des Uniklinikums seine vermutlich vorliegende Depression bewusst verschleiert hat, ad hoc sehr hochprozentigen Alkohol zu sich nahm und auf der Intensivstation verschiedene Selbstmordsituationen gedanklich vorwegnahm.
Warum nun der vom LG Aachen bestellte Gutachter angesichts der o.a. erwiesenen Tatsachen die Waage sprichwörtlich für ausgeglichen hielt, also die Annahme oder Nichtannahme einer akuten Suizidalität bei einer ärztlichen Untersuchung mit einer gleichen Wahrscheinlichkeit bewertete, bleibt sein Geheimnis. Zwar hat er auf die (vermeintlich) positiven Aussagen des P. angesichts der Gefährdungsbeurteilung (Lebenssinn durch Familie und Beruf) hingewiesen. Solche Aussagen sind aber doch wegen der ausgesagten Unwahrheiten im Uniklinikum mit deutlicher Vorsicht und deswegen geringwertiger zu betrachten. P. hatte vielleicht noch einen nicht unerheblichen Lebenswillen, der ab und an aufblitzte, aber durch seinen aufgrund der bekannten Indizien durchscheinenden pathologisch bedingten „Todeswillen“ immer wieder gefährlich und häufig überlagert wurde.
- D.
Auswirkungen für die Praxis
Zu beachten ist, dass die Diagnostik in der Ausbildung von Medizinern – etwa durch Einübung von Differentialdiagnostik und der Gesamtschau von Symptomen – einen nicht unerheblichen Zeitraum einnimmt (es gibt sogar einen eigenständigen Masterstudiengang „Precision Medicine Diagnostics“,
https://www.hs-furtwangen.de/studium/studiengaenge/precision-medicine-diagnostics-master, zuletzt abgerufen am 15.08.2025). Ein durchschnittlich erfahrener Arzt hätte den oben beschriebenen Sachverhalt bei der Beurteilung des Suizidrisikos sicherlich mit in Erwägung gezogen und wäre wegen der Folgerichtigkeit der Handlungen des P. sowie den passenden, zusammengehörenden „Puzzleteilen“ zu einem höheren Risiko gelangt.
Diesem Widerspruch hätte aber durch beide Instanzen nachgegangen werden müssen, etwa durch zusätzliche Gutachterbefragungen. Es stellt sich sogar die Frage, ob angesichts des oben beschriebenen eindeutigen Befundes sich der Senat des OLG Köln nicht über die Aussagen des Sachverständigen hätte hinwegsetzen und eine überwiegende Wahrscheinlichkeit annehmen können oder sogar müssen. Die eingenommene sehr hohe Dosis eines Wirkstoffes, der im Extremfall den Herzschlag zum Erliegen bringen kann, die Verschleierungstaktik, die gedankliche Vorwegnahme von Selbstmordszenarien und die evident hohe Alkoholmenge lassen selbst psychiatrische Laien an der Aussage des Sachverständigen zweifeln, liegen „auf der Hand“ bzw. drängen sich geradezu auf. Mit einer recht hohen Wahrscheinlichkeit wären andere Gutachter in dem Prozess zu einem abweichenden Ergebnis gekommen und hätten eine überwiegende Wahrscheinlichkeit „pro Suizidalität“ angenommen, wenn eine ärztliche Untersuchung erfolgt wäre, womit die gesetzlichen Voraussetzungen der unterlassenen Befunderhebung zu bejahen gewesen wären. Selbstredend würde dann die Unterlassung von Maßnahmen, die aus der Diagnose folgen – also das Verbot von unbeaufsichtigten (Körperpflege-)Maßnahmen – einen groben Behandlungsfehler bedeuten.
Man kann nur hoffen, dass zukünftig in vergleichbaren Fällen die Gerichte näher hinschauen und den Sachverhalt umfassend beleuchten. Eine Kompetenzerweiterung auf medizinischem Gebiet kann sicherlich nicht schaden.