Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger ermittelte seinen Gewinn aus den von ihm als Einzelkaufmann betriebenen Supermarkt-Filialen durch Betriebsvermögensvergleich. Sein Warensortiment umfasste Lebensmittel und Getränke, Genussmittel sowie sog. Non-Food-Artikel. Ungewöhnliche oder besonders hochwertige Artikel bot der Kläger nicht an. Der Kläger entnahm in den Streitjahren aus seinen Supermärkten Nahrungs- und Genussmittel sowie Non-Food-Artikel, aber keine Tabakwaren. Er zeichnete die Warenentnahmen nicht einzeln auf. Dafür setzte er Beträge im Umfang der vom BMF veröffentlichten Pauschbeträge („BMF-Regelung“) für sich und eine weitere, in seinem Haushalt lebende Person an. Nach einer Außenprüfung gelangte das FA zu der Auffassung, dass die „BMF-Regelung“ nur für die Entnahme von Nahrungs- und Genussmitteln ohne Tabakwaren gelte, Non-Food-Artikel hingegen nicht erfasse. Das FA schätzte die Entnahme der Non-Food-Artikel und erhöhte die Einkünfte aus Gewerbebetrieb und die USt entsprechend und erließ geänderte Bescheide.
Das FG gab der hierauf erhobenen Klage statt (FG Münster, Urt. v. 29.04.2022 - 10 K 1297/20 G,U,F - EFG 2022, 1381; Anm. Zapf). Es urteilte, das FA sei dem Grunde nach berechtigt gewesen, die Höhe der Sachentnahmen des Klägers aus seinem Betrieb nach § 162 AO zu schätzen, weil sie dieser nicht aufgezeichnet habe. Die Hinzuschätzungen für die Entnahme der Non-Food-Artikel seien allerdings – jedenfalls in dem vorliegenden Streitfall – unzulässig. Denn die Schätzung habe nicht über die Pauschbeträge der BMF-Regelung bzw. der jeweils einschlägigen „amtlichen Richtsatzsammlungen“ für den Gewerbezweig Nahrungs- und Genussmittel (Einzelhandel) nach den für die Streitjahre jeweils einschlägigen BMF-Schreiben hinausgehen dürfen.
Nach Auffassung des BFH sei das FG zu Unrecht von einer Schätzungsbefugnis nach § 162 AO ausgegangen. Der Kläger habe keine Pflichten verletzt, sondern zulässige Erleichterungen genutzt. Dennoch sei die Vorentscheidung im Ergebnis richtig, weil das FG die Hinzuschätzungen wegen Non-Food-Artikeln zu Recht abgelehnt habe.
I. Nach § 162 Abs. 2 Satz 2 AO sei insbesondere dann zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen habe, nicht vorlege. Gemäß den §§ 22 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 1 Satz 2, 3 Abs. 1b Nr. 1 UStG, §§ 140 ff. AO seien Aufzeichnungen über die Entnahme von Gegenständen durch den Unternehmer getrennt nach Steuersätzen vorzunehmen. Versäume der Steuerpflichtige diese Aufzeichnungen, müssten die Sachentnahmen nach § 162 AO geschätzt werden (BFH, Urt. v. 23.04.2015 - V R 32/14 Rn. 9 - BFH/NV 2015, 1106). Dies gelte auch für die Einkommen- und Gewerbesteuer (BFH, Beschl. v. 19.03.2007 - X B 191/06 Rn. 4 m.w.N. - BFH/NV 2007, 1134).
II. Eine (Hinzu-)Schätzung wegen Verstoßes gegen Aufzeichnungspflichten scheide jedoch aus, soweit der Steuerpflichtige von Pflichten entbunden gewesen sei, etwa nach § 22 Abs. 6 Nr. 1 UStG i.V.m. den §§ 63 ff. UStDV oder weil ihm gemäß § 148 Satz 1 AO eine Erleichterung bewilligt worden sei.
1. Nach Satz 2 der zweiten Vorbemerkung der BMF-Regelung könne im Streitfall eine erleichterte Art der Aufzeichnung von Entnahmen in Betracht kommen. Danach dürfe der Steuerpflichtige die Warenentnahmen monatlich pauschal verbuchen, sofern er sich an die vom BMF bekanntgegebenen Jahreswerte halte, die nach Erfahrungswerten festgelegt und nach Steuersätzen getrennt seien.
2. Das BMF habe damit für die Streitjahre mittels der BMF-Regelung als eine allgemeine fachliche Weisung eine Erleichterung der Aufzeichnungspflicht geschaffen, auf die sich der Kläger berufen könne.
Art. 108 Abs. 3 Satz 2 GG verweise für die Bundesauftragsverwaltung auf Art. 85 Abs. 3 und 4 GG und erkläre statt der Bundesregierung den Bundesminister der Finanzen für zuständig. Danach unterstünden die Landesfinanzbehörden den Weisungen des BMF (Art. 85 Abs. 3 Satz 1 GG), und die Bundesaufsicht erstrecke sich auf Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit (Art. 85 Abs. 4 Satz 1 GG). Ob das Weisungsrecht auch allgemeine fachliche Weisungen einschließe, sei umstritten (dies wohl bejahend zum alten Art. 108 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 GG BVerfG, Beschl. v. 21.10.1971 - 2 BvL 6/69 u.a. Rn. 37 bis 39 - BVerfGE 32, 145 = BStBl II 1972, 48; ablehnend dagegen Seer in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 108 Rn. 111 ff., 120 ff. m.w.N.). Allerdings gebe § 21a Abs. 1 Satz 1 FVG dem BMF ausdrücklich die Kompetenz, einheitliche Verwaltungsgrundsätze zu bestimmen und allgemeine fachliche Weisungen zu erteilen, so dass davon auszugehen sei, das BMF habe sich dieser Handlungsform bedienen wollen.
III. Trotz der Form der allgemeinen fachlichen Weisung entfalte die BMF-Regelung Vertrauensschutz für die dort bezeichneten Steuerpflichtigen. Allgemeine fachliche Weisungen richteten sich zwar an die Landesfinanzbehörden (vgl. Art. 85 Abs. 3 Satz 2 GG). Die BMF-Regelung gebe aber nicht bloß Schätzungshilfen für den Fall unterlassener Aufzeichnungen nach Ablauf des Besteuerungszeitraums, sondern eröffne den Steuerpflichtigen bereits während des laufenden Besteuerungszeitraums eine pauschale Verbuchungsmöglichkeit und entbinde sie somit von zahlreichen Einzelaufzeichnungen. Dies erfordere Vertrauensschutz, da sonst die vereinfachende Wirkung der BMF-Regelung entfiele.
Bei der Auslegung der allgemeinen fachlichen Weisung sei ein objektivierter Maßstab anzulegen. Da diese allgemeinen fachlichen Weisungen für bestimmte Steuerpflichtige eine vertrauensbegründende Dispositionsgrundlage darstellten, müsse eine objektivierende Auslegung erfolgen. Nicht das subjektive Verständnis einzelner FÄ oder der Steuerpflichtigen sei entscheidend, maßgeblich sei vielmehr der objektive Erklärungsinhalt unter Berücksichtigung von Treu und Glauben. Bei Unklarheiten sei das für die Betroffenen günstigere Auslegungsergebnis zu wählen, besonders wenn die Erleichterung faktisch irreversibel sei und versäumte Aufzeichnungen nicht nachträglich erstellt werden könnten (vgl. BFH, Urt. v. 16.01.2020 - V R 56/17 Rn. 17 m.w.N. - BFHE 268, 107; Anm. P. Fischer, jurisPR-SteuerR 12/2020 Anm. 1).
IV. Bei der Auslegung allgemeiner fachlicher Weisungen werde ein objektivierter Maßstab angelegt. Die allgemeinen fachlichen Weisungen hätten für bestimmte Steuerpflichtige die Bedeutung einer vertrauensbegründenden Dispositionsgrundlage, so dass v.a. eine objektivierende Auslegung geboten sei. Nicht das Verständnis der Verwaltung, des BMF oder eines einzelnen FA sei entscheidend, sondern der objektive Erklärungsinhalt unter Berücksichtigung von Treu und Glauben. Dabei dürfe man nicht nur den Tenor, sondern müsse auch den materiellen Regelungsgehalt und die Begründung heranziehen (vgl. BFH, Urt. v. 11.07.2006 - VIII R 10/05 Rn. 41 - BStBl II 2007, 96; Anm. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 43/2006 Anm. 1; BFH, Urt. v. 26.11.2009 - III R 87/07 Rn. 13 - BStBl II 2010, 429; Anm. Selder, jurisPR-SteuerR 15/2010 Anm. 1). Ebenfalls seien beigefügte Erklärungen, frühere Bescheide und die Verwaltungspraxis zu berücksichtigen (vgl. BFH, Urt. v. 16.01.2020 - V R 56/17 Rn. 17 - BFHE 268, 107; Anm. P. Fischer, jurisPR-SteuerR 12/2020 Anm. 1). Im Zweifel gelte die für die Betroffenen weniger belastende Auslegung, da sie nicht durch Unklarheiten aus der Verwaltungssphäre benachteiligt werden dürften, besonders wenn unterlassene Aufzeichnungen nachträglich nicht möglich seien. Dies gelte insbesondere in den Fällen, in denen die Inanspruchnahme der Erleichterung insofern faktisch irreversibel ist, als die unterlassenen Aufzeichnungen nicht nachgeholt werden könnten.
V. Gemäß der in den Streitjahren geltenden BMF-Regelung habe die Erleichterung auch für die Entnahme von Non-Food-Produkten (ohne Tabakwaren) zu gelten, sofern diese dem üblichen Warensortiment des Gewerbezweigs entsprächen.
Teile der Regelung hätten darauf hingedeutet, dass die Erleichterung nur für Nahrungsmittel und Getränke gelte. So bezögen sich die Vorbemerkungen hauptsächlich auf Nahrungsmittel und Getränke, ohne Non-Food-Produkte zu erwähnen. Dagegen habe die fünfte Vorbemerkung die Abdeckung des üblichen Warensortiments und mithin auch Non-Food-Artikel bestätigt.
Die daraus folgenden Zweifel an der Abdeckung von Non-Food-Produkten seien durch weitere Regelungen nicht ausgeräumt worden. Die Ausnahme von Tabakwaren deute zwar auf die Einbeziehung anderer Non-Food-Artikel hin. Dies sei aber nicht zwingend, da Tabakwaren regelmäßig den Genussmitteln zugeordnet würden, andere Non-Food-Artikel hingegen nicht, weshalb möglicherweise nur für Tabakwaren eine Klarstellung erforderlich gewesen sei. Dass die Erleichterung nur bestimmten Betrieben mit dem Vertrieb von Nahrungs- und Genussmitteln gewährt werde, schließe Non-Food-Artikel nicht zwingend aus. Denn das allgemein übliche Warensortiment derartiger Betriebe umfasse auch Non-Food-Produkte. Außerdem betreffe die Wirtschaftszweigklassifikation des Statistischen Bundesamts nicht die Abdeckung von Non-Food-Produkten durch die Erleichterung. Eine spätere Ergänzung bestätige, dass die BMF-Regelung zuvor nicht zweifelsfrei in der Weise zu verstehen gewesen sei, wie das FA sie verstanden habe. So habe das BMF mit Wirkung ab dem Jahr 2023 in der fünften Vorbemerkung folgenden Satz 2 angefügt: „Unentgeltliche Wertabgaben, die weder Nahrungsmittel noch Getränke (...) sind, müssen einzeln aufgezeichnet werden.“ Dass das BMF zugleich die Pauschale für Entnahmen von Artikeln, auf die der volle Umsatzsteuersatz anzuwenden sei, annähernd halbiert habe (vgl. BMF, Schr. v. 21.12.2022 - IV A 8 - S 1547/19/10001:004 - BStBl I 2023, 52; vgl.a. BMF, Schr. v. 12.02.2024 - IV D 3-S 1547/19/10001:005 - BStBl I 2024, 286), deute darauf hin, dass die Erleichterung zuvor auch die Entnahme von Non-Food-Produkten betroffen habe. Aufgrund bestehender Zweifel sei die weniger belastende Auslegung maßgeblich, so dass die Erleichterung auch Non-Food-Produkte umfasst habe.
VI. Nach diesen Grundsätzen komme im Streitfall eine (Hinzu-)Schätzung wegen der Entnahme von Non-Food-Produkten (§ 162 AO) nicht in Betracht, da der Kläger seine Sachentnahmen im Non-Food-Bereich zulässigerweise pauschaliert aufgezeichnet habe. Die Supermärkte des Klägers hätten zum Gewerbezweig Nahrungs- und Genussmittel (Einzelhandel) gezählt. Der Kläger habe in den Streitjahren die in der jeweiligen BMF-Regelung angegebenen Pauschbeträge für zwei Personen angesetzt. Damit habe der Kläger die Bedingung für die Gewährung der Erleichterung nach Satz 2 der zweiten Vorbemerkung der BMF-Regelung erfüllt. Da der Kläger nach den Feststellungen des FG ausschließlich Waren aus dem im Gewerbezweig üblichen Warensortiment geführt und keine Tabakwaren entnommen habe, sei das FA zu einer (Hinzu-)Schätzung für Non-Food-Produkte nicht befugt.