juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BFH 9. Senat, Urteil vom 20.09.2024 - IX R 24/23
Autor:Ingo Lutter, Vors. RiFG
Erscheinungsdatum:31.03.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 126 FGO, § 6 AO 1977, § 32d AO 1977, § 32i AO 1977, § 348 AO 1977, § 101 FGO, § 2a AO 1977, § 91 AO 1977, Art 19 GG, Art 20 GG, § 5 AO 1977, § 102 FGO, 12008E267, 12008E288, 12016P041, EUV 2016/679
Fundstelle:jurisPR-SteuerR 13/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Peter Fischer, Vors. RiBFH a.D.
Prof. Dr. Franz Dötsch, Vors. RiBFH a.D.
Zitiervorschlag:Lutter, jurisPR-SteuerR 13/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Voraussetzungen und Reichweite des Auskunftsanspruchs nach Art. 15 DSGVO im Besteuerungsverfahren



Leitsätze

1. § 2a Abs. 5 Nr. 2 der Abgabenordnung ordnet die entsprechende Geltung der Vorschriften der Datenschutz-Grundverordnung für Informationen, die sich auf identifizierte oder identifizierbare Körperschaften beziehen, an.
2. Die Datenschutz-Grundverordnung enthält keinen Anspruch auf Akteneinsicht.
3. Der zuständige Spruchkörper ist grundsätzlich berechtigt und verpflichtet, einen geltend gemachten Anspruch unter allen zumindest denkbaren rechtlichen Aspekten zu prüfen.
4. Weder aus der Abgabenordnung noch aus dem Recht auf effektiven Rechtsschutz i.S.v. Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) sowie dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG ergibt sich ein gebundener Anspruch auf Akteneinsicht.



A.
Problemstellung
Der IX. Senat des BFH nimmt erneut zu den Voraussetzungen und zur Reichweite des Auskunftsanspruchs nach Art. 15 DSGVO im Besteuerungsverfahren Stellung. Streitig ist das Bestehen eines Anspruchs auf Akteneinsicht in die bei einer Fachaufsichtsbehörde geführten Akten.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin ist eine Kapitalgesellschaft. Sie streitet sich mit dem für sie zuständigen FA um die Anerkennung einer Teilwertabschreibung. Der Beklagte ist eine oberste Landesbehörde. Dieser verfasste zu der Frage der Teilwertabschreibung diverse Stellungnahmen und wies das FA schließlich im Rahmen der Fachaufsicht an, die Teilwertabschreibung zu versagen.
Die Klägerin beantragte unter Hinweis auf Art. 15 DSGVO i.V.m. § 2a AO Akteneinsicht beim Beklagten, die ihr mit Bescheid vom 06.11.2020 versagt wurde. Der Beklagte führte aus, dass ein Anspruch auf Akteneinsicht „weder nach der DSGVO noch nach der AO“ existiere. Die hiergegen gerichtete Klage hatte keinen Erfolg (FG Hannover, Urt. v. 21.06.2022 - 12 K 34/21 - n.v.). Mit der Revision rügte die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Der Auskunftsanspruch nach Art. 15 DSGVO umfasse jedenfalls bei einer ordnungsgemäßen Ermessensausübung auch den Anspruch auf Akteneinsicht.
Der IX. Senat des BFH hob die Vorentscheidung sowie den ablehnenden Bescheid des Beklagten vom 06.11.2020 auf (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO) und verpflichtete den Beklagten, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats erneut zu bescheiden (§ 101 Satz 2 FGO). Zur Begründung führt der BFH im Einzelnen aus:
I. Im Ergebnis zu Recht hat das FG einen Anspruch der Klägerin gegenüber dem Beklagten auf Akteneinsicht aus Art. 15 DSGVO versagt.
1. Die DSGVO gilt auch für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch den Beklagten (Art. 2 Abs. 1 DSGVO i.V.m. Art. 4 Nr. 7 DSGVO sowie § 2a Abs. 1 AO i.V.m. § 6 Abs. 2 Nr. 1 AO).
2. Der Anspruch aus Art. 15 DSGVO bezieht sich auch auf interne Vermerke, Aktennotizen, Bearbeitungsvermerke und interne Kommunikation. Denn auch diese Unterlagen können personenbezogene Daten enthalten (vgl. dazu BFH, Urt. v. 12.03.2024 - IX R 35/21 Rn. 20 - BStBl II 2024, 682; BGH, Urt. v. 15.06.2021 - VI ZR 576/19 Rn. 24 - WM 2021, 1803).
3. Zwar dient die DSGVO unmittelbar nur dem Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen und insbesondere deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 1 Abs. 2 DSGVO). Sachlich gilt die DSGVO nach Art. 2 Abs. 1 DSGVO daher nur für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen. Personenbezogene Daten sind nach der Legaldefinition in Art. 4 Nr. 1 DSGVO alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen. § 2a Abs. 5 Nr. 2 AO ordnet jedoch die entsprechende Geltung der Vorschriften der DSGVO für Informationen, die sich auf identifizierte oder identifizierbare Körperschaften beziehen, an.
4. Die DSGVO sieht allerdings keinen Anspruch auf Akteneinsicht vor. Soweit die Klägerin einen Anspruch auf Akteneinsicht aus Art. 15 DSGVO herleiten möchte, enthält diese Vorschrift lediglich einen Auskunftsanspruch gegenüber dem für die Verarbeitung der personenbezogenen Daten Verantwortlichen.
a) Durch die Rechtsprechung des EuGH und des BFH ist inzwischen geklärt, dass Art. 15 DSGVO nicht dahin auszulegen ist, dass er in seinem Absatz 3 Satz 1 ein anderes Recht als das in seinem Absatz 1 vorgesehene gewährt. Im Übrigen bezieht sich der Begriff „Kopie“ nicht auf ein Dokument als solches, sondern auf die personenbezogenen Daten, die es enthält und die vollständig sein müssen. Die Kopie muss daher alle personenbezogenen Daten enthalten, die Gegenstand der Verarbeitung sind (vgl. EuGH, Urt. v. 26.10.2023 - C-307/22 Rn. 72 - NJW 2023, 3481 „Copies du dossier médical“; EuGH, Urt. v. 04.05.2023 - C-487/21 Rn. 32 - NJW 2023, 2253 „Österreichische Datenschutzbehörde“; BFH, Urt. v. 12.03.2024 - IX R 35/21 Rn. 27- BStBl II 2024, 682).
b) Nur wenn die Zurverfügungstellung einer Kopie unerlässlich ist, um der betroffenen Person die wirksame Ausübung der ihr durch die DSGVO verliehenen Rechte zu ermöglichen, wobei insoweit die Rechte und Freiheiten anderer zu berücksichtigen sind, besteht nach Art. 15 Abs. 3 Satz 1 DSGVO ein Anspruch darauf, eine Kopie von Auszügen aus Dokumenten oder gar von ganzen Dokumenten oder auch von Auszügen aus Datenbanken zu erhalten (vgl. BFH, Urt. v. 12.03.2024 - IX R 35/21 Rn. 28 - BStBl II 2024, 682; EuGH, Urt. v. 26.10.2023 - C-307/22 Rn. 75 „Copies du dossier médical“; EuGH, Urt. v. 04.05.2023 - C-487/21 Rn. 75 „Österreichische Datenschutzbehörde“).
c) Hingegen beinhaltet Art. 15 DSGVO keinen Anspruch auf Akteneinsicht als „Weniger“ zum Anspruch auf Zurverfügungstellung einer Kopie der personenbezogenen Daten beziehungsweise ausnahmsweise unter bestimmten Umständen auf Zurverfügungstellung der Quellen, in denen die personenbezogenen Daten verarbeitet wurden. Vielmehr handelt es sich bei der Gewährung von Akteneinsicht um ein Aliud. Während das Recht auf Akteneinsicht die temporäre Möglichkeit zur Einsicht in die gesamte Verwaltungsakte beinhaltet, betrifft Art. 15 DSGVO nicht die gesamte Verwaltungsakte, sondern ist auf die dauerhafte Überlassung der darin enthaltenen personenbezogenen Daten und nur ausnahmsweise unter bestimmten Umständen auf die Überlassung von Auszügen von Verwaltungsakten gerichtet. Zudem betrifft das Recht auf Akteneinsicht das Recht, einen Einblick in die Originalakte zu erhalten, während Art. 15 DSGVO auf die Erteilung von Auskünften und die Zurverfügungstellung von Kopien gerichtet ist.
d) Auch soweit dem Beklagten hinsichtlich der Erfüllung des Auskunftsanspruchs nach Art. 15 DSGVO ein Ermessen zusteht, kann die Klägerin hieraus jedenfalls keinen Anspruch ableiten, dass eine Ermessensreduktion dahin gehend zu erfolgen hat, dass die Auskunft durch Gewährung einer Akteneinsicht zu erteilen wäre. Zwar steht es nach § 32d Abs. 1 AO im pflichtgemäßen Ermessen des Beklagten, die Form der Auskunftserteilung zu bestimmen. Dies gilt jedoch nur, soweit in Art. 12 bis 15 DSGVO keine diesbezüglichen Regelungen enthalten sind. Dies ist mit Art. 15 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 DSGVO jedoch der Fall. Hiernach hat der Verantwortliche eine (elektronische) Kopie der personenbezogenen Daten und unter gewissen Umständen auch der Quellen, in denen solche Daten verarbeitet wurden, zur Verfügung zu stellen (vgl. BFH, Urt. v. 12.03.2024 - IX R 35/21 Rn. 37 - BStBl II 2024, 682).
II. Zwar ist der zuständige Spruchkörper grundsätzlich berechtigt und verpflichtet, einen geltend gemachten Anspruch unter allen zumindest denkbaren rechtlichen Aspekten zu prüfen (vgl. BFH, Urt. v. 23.01.2024 - IX R 36/21 Rn. 17 - BFH/NV 2024, 642). Jedoch erwächst der Klägerin auch hieraus kein gebundener Anspruch auf Akteneinsicht.
1. Einer Prüfung eines Akteneinsichtsrechts aus einer anderen Anspruchsgrundlage als der DSGVO verbietet sich im vorliegenden Verfahren nicht bereits vor dem Hintergrund eines diesbezüglich mangelnden Vorverfahrens. Der Senat kann es jedenfalls im vorliegenden Verfahren dahinstehen lassen, inwieweit § 32i Abs. 9 Satz 1 AO auch Anwendung findet, wenn ein geltend gemachter Anspruch nicht nur auf die DSGVO, sondern auch auf einen anderen rechtlichen Aspekt gestützt wird. Denn vorliegend ist der Einspruch gegen den Beklagten, eine oberste Finanzbehörde eines Bundeslandes, jedenfalls nach § 348 Nr. 3 AO nicht statthaft.
2. Der Klägerin erwächst kein gebundener Anspruch auf Akteneinsicht aus der AO. Es ist höchstrichterlich bereits geklärt, dass die AO keine Regelung enthält, nach der ein Anspruch auf Akteneinsicht besteht. Wie der BFH in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, ist ein solches Einsichtsrecht weder aus § 91 Abs. 1 AO noch aus § 364 AO beziehungsweise dem jeweils dazu ergangenen Anwendungserlass zur Abgabenordnung abzuleiten (zuletzt BFH, Urt. v. 07.05.2024 - IX R 21/22 Rn. 14 m.w.N. - BFH/NV 2024, 1070).
3. Ebenso erwächst der Klägerin weder aus dem Recht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG noch aus dem Rechtsstaatsprinzip i.S.v. Art. 20 Abs. 3 GG ein gebundener Anspruch auf Akteneinsicht (vgl. BFH, Urt. v. 19.03.2013 - II R 17/11 Rn. 11 - BStBl II 2013, 639).
4. Entsprechendes gilt für das Recht auf eine gute Verwaltung nach Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUGrdRCh). Adressat jenes Grundrechts sind nur Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der EU (Art. 41 Abs. 1 EUGrdRCh), nicht aber Behörden der Landesfinanzverwaltung in den EU-Mitgliedstaaten (vgl. BFH, Urt. v. 07.05.2024 - IX R 21/22 Rn. 17 - BFH/NV 2024, 1070).
III. Allerdings geht der BFH in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass dem während eines Verwaltungsverfahrens um Akteneinsicht nachsuchenden Steuerpflichtigen oder seinem Vertreter ein Anspruch auf eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung (§ 5 AO) der Behörde zusteht (vgl. BFH, Beschl. v. 05.12.2016 - VI B 37/16 Rn. 5 m.w.N.). Insoweit hat der Beklagte das ihm zustehende Ermessen nicht ausgeübt.
1. Die Ermessensentscheidung über das Auskunftsverlangen erfordert eine Abwägung der beiderseitigen Interessen des Auskunftsuchenden an der Auskunft beziehungsweise der Finanzbehörde an der Nichterteilung der Auskunft. Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung hat die Finanzbehörde insbesondere zu berücksichtigen, ob der Auskunftsuchende ein berechtigtes Interesse an der Auskunft dargelegt hat oder ein solches Interesse aus den Umständen des Einzelfalls erkennbar ist. Weiter ist für die Ermessensabwägung maßgebend, ob die Auskunft der Wahrnehmung von Rechten in einem bestehenden Steuerrechtsverhältnis dienen kann (vgl. BFH, Urt. v. 19.03.2013 - II R 17/11 Rn. 13 - BStBl II 2013, 639). Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Überprüfung der Ermessensentscheidung der Finanzbehörde ist der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (vgl. BFH, Urt. v. 12.05.2016 - II R 17/14 Rn. 19 - BStBl II 2016, 822).
2. Da nach § 348 Nr. 3 AO im Streitfall kein Einspruchsverfahren statthaft ist, kommt es hinsichtlich des Zeitpunkts der Ermessensausübung auf den Bescheid des Beklagten vom 06.11.2020 an. Darin hat der Beklagte kein Ermessen ausgeübt, weil nach seiner Auffassung ein Anspruch auf Akteneinsicht nach der Abgabenordnung nicht existiert (sogenannter Ermessensnichtgebrauch). Nach § 102 FGO sind die Gerichte nicht befugt, ihr eigenes Ermessen an die Stelle des Verwaltungsermessens zu setzen (vgl. BFH, Urt. v. 30.09.2020 - VI R 34/18 Rn. 39 - BStBl II 2021, 446). Der Beklagte ist daher zu verpflichten, das ihm hinsichtlich der Gewährung der Akteneinsicht zustehende Ermessen auszuüben (§ 101 Satz 2 FGO).
IV. Eine Pflicht zur Vorlage an den EuGH nach Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union besteht nicht. Hinsichtlich der Frage, ob aus Art. 15 DSGVO auch ein Anspruch auf Akteneinsicht erwächst, besteht einerseits aufgrund der Anordnung der lediglich entsprechenden Anwendbarkeit der Datenschutz-Grundverordnung auf Körperschaften keine Zuständigkeit des EuGH (vgl. EuGH, Urt. v. 10.12.2020 - C-620/19 „J & S Service“). Im Übrigen hat der EuGH mit den auch in dieser Entscheidung berücksichtigten Urteilen in den Rs. „Copies du dossier médical“ (EuGH, Urt. v. 26.10.2023 - C-307/22) und „Österreichische Datenschutzbehörde“ (EuGH, Urt. v. 04.05.2023 - C-487/21) zum Inhalt des Auskunftsanspruchs i.S.v. Art. 15 DSGVO Stellung bezogen, so dass diese Frage durch die Rechtsprechung des EuGH bereits in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclairé“). Hinsichtlich des Rechts auf Akteneinsicht nach Art. 41 Abs. 2 Buchst. b EUGrdRCh ist die Rechtslage aufgrund des Regelungswortlauts eindeutig („acte clair“; BVerfG, Beschl. v. 04.03.2021 - 2 BvR 1161/19 Rn. 55 - DStR 2021, 777).


C.
Kontext der Entscheidung
I. Als Verordnung der EU ist die DSGVO nach Art. 288 Abs. 2 AEUV in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Art. 15 Abs. 1 DSGVO gewährt der betroffenen Person (i.S.v. Art. 4 Nr. 1 DSGVO) das Recht, von dem Verantwortlichen (i.S.v. Art. 4 Nr. 7 DSGVO) eine Bestätigung darüber zu verlangen, ob sie betreffende personenbezogene Daten (i.S.v. Art. 4 Nr. 1 DSGVO) verarbeitet werden. Ist dies der Fall, so hat sie ein Recht auf Auskunft über diese personenbezogenen Daten und auf die näher in Art. 15 Abs. 1 Buchst. a bis h DSGVO bezeichneten Informationen. Nach Art. 15 Abs. 3 Satz 1 DSGVO stellt der Verantwortliche der betroffenen Person eine Kopie der personenbezogenen Daten, die Gegenstand der Verarbeitung sind, zur Verfügung (zu den weiteren Einzelheiten: vgl. u.a.: Lutter, jurisPR-SteuerR 12/2023 Anm. 3 u. Lutter, jurisPR-SteuerR 24/2023 Anm. 2). § 2a Abs. 5 Nr. 2 AO ordnet die entsprechende Geltung der Vorschriften der DSGVO für Informationen, die sich auf identifizierte oder identifizierbare Körperschaften beziehen an.
II. Der IX. Senat des BFH knüpft in der vorliegenden Entscheidung an seine bisherige Rechtsprechung zur Anwendung der DSGVO im Steuerrecht sowie zu den Voraussetzungen und zur Reichweite des Auskunftsanspruchs nach Art. 15 DSGVO an und führt seine diesbezügliche Rechtsprechung fort (vgl. u.a.: BFH, Urt. v. 05.09.2023 - IX R 32/21 - BStBl II 2024, 159; Anm. Jachmann-Michel, jurisPR-SteuerR 5/2024 Anm. 1; BFH, Urt. v. 12.03.2024 - IX R 35/21 - BStBl II 2024, 682, Anm. Reddig, jurisPR-SteuerR 36/2024 Anm. 1; BFH, Urt. v. 07.05.2024 - IX R 21/22 - BFH/NV 2024, 1070, Anm. Figatowski, jurisPR-SteuerR 32/2024 Anm. 3; BFH, Urt. v. 13.08.2024 - IX R 6/23 - BFH/NV 2024, 1433).
1. Bereits mit Urteil vom 12.03.2024 (IX R 35/21 Rn. 17 ff.) hat der erkennende Senat des BFH zur Anwendung der DSGVO im Bereich der Steuerverwaltung umfassend Stellung genommen und entschieden, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Finanzverwaltung dem Anwendungsbereich der DSGVO unterfällt, wobei es dabei auf eine Differenzierung nach der Art der Aktenführung, der Art der Dokumente oder der Form der Bearbeitung nicht ankommt. Der BFH begründet dies im Kern zutreffend damit, dass das Besteuerungsverfahren (jedenfalls) teilweise digitalisiert erfolgt und die dem Besteuerungsverfahren dienenden und verarbeiteten personenbezogenen Daten der Steuerpflichtigen (auch wenn sie sich beispielsweise in Papierakten befinden) somit dem Anwendungsbereich der DSGVO unterfallen.
2. Im vorgenannten Urteil vom 12.03.2024 (IX R 35/21 Rn. 21 ff.) hat der IX. Senat des BFH zudem unter ausführlicher Begründung auf der Grundlage der maßgeblichen europäischen Rechtsnormen und der Rechtsprechung des EuGH dargelegt, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO die Anwendung der DSGVO nicht auf den Bereich der harmonisierten Steuern beschränkt. Die Verarbeitung personenbezogener Daten natürlicher Personen (als betroffene Person i.S.v. Art. 4 Nr. 1 DSGVO) durch das FA (als Verantwortlicher i.S.v. Art. 4 Nr. 7 Halbsatz 1 DSGVO) im Rahmen des Besteuerungsverfahrens unterliegt somit unabhängig von der Steuerart den Vorgaben der DSGVO. Gleiches gilt für identifizierte oder identifizierbare Körperschaften, da § 2a Abs. 5 Nr. 2 AO die entsprechende Geltung der Vorschriften der DSGVO für Informationen, die sich auf diese Körperschaften beziehen, anordnet.
3. Von zentraler Bedeutung ist darüber hinaus die Aussage des BFH, dass Art. 15 Abs. 3 Satz 1 DSGVO keinen gegenüber Art. 15 Abs. 1 DSGVO eigenständigen Anspruch gegenüber dem Verantwortlichen auf Zurverfügungstellung von Dokumenten mit personenbezogenen Daten gewährt und ein Anspruch auf die Zurverfügungstellung von Kopien von Auszügen aus Dokumenten oder gar von ganzen Dokumenten oder auch von Auszügen aus Datenbanken, die u.a. diese Daten enthalten nach Art. 15 Abs. 3 Satz 1 DSGVO nur besteht, wenn eine Kopie dieser Dokumente unerlässlich ist, um der betroffenen Person die wirksame Ausübung der ihr durch die DSGVO verliehenen Rechte zu ermöglichen (vgl. BFH, Urt. v. 12.03.2024 - IX R 35/21 Rn. 26 ff.). Der BFH stellt insofern maßgeblich darauf ab, dass Art. 15 DSGVO nicht dahin auszulegen ist, dass er in seinem Absatz 3 Satz 1 (Zurverfügungstellung einer Kopie der personenbezogenen Daten, die Gegenstand der Verarbeitung sind) ein anderes Recht als in seinem Absatz 1 (Recht auf Auskunft über personenbezogene Daten) vorsieht und verweist insofern zu Recht darauf, dass dies inzwischen auch durch die Rechtsprechung des EuGH (vgl. EuGH, Urt. v. 26.10.2023 - C-307/22 „FT (Copies du dossier médical)“ und Rs. Österreichische Datenschutzbehörde (EuGH, Urt. v. 04.05.2023 - C-487/21)) geklärt ist. Der IX. Senat des BFH stellt damit klar, dass über die Regelungen in Art. 15 DSGVO grundsätzlich kein generelles (auch außerhalb des finanzgerichtlichen Verfahrens zu gewährendes) Akteneinsichtsrecht besteht sowie dass das Akteneinsichtsrecht und der Auskunftsanspruch gemäß Art. 15 DSGVO nicht deckungsgleich sind, sondern ein wechselseitiges Aliud (vgl. hierzu u.a. auch: Reddig, jurisPR-SteuerR 36/2024 Anm. 1 und Reddig, HFR 2024, 816).
4. Der Auskunftsanspruch nach Art. 15 DSGVO ist eigenständig und nicht von einem anderweitigen Verwaltungs- oder Rechtsbehelfsverfahren abhängig, so dass das Rechtsschutzbedürfnis für einen Auskunftsanspruch nach Art. 15 DSGVO nicht entfällt, wenn des Verfahren, auf das sich die Auskunftserteilung nach Art. 15 DSGVO bezieht, beendet ist (vgl. BFH, Urt. v. 12.03.2024 - IX R 35/21 Rn. 9 - BStBl II 2024, 682). Der Betroffene kann somit einen Auskunftsanspruch nach Art. 15 DSGVO gegen die Finanzbehörde auch dann noch (weiter-)verfolgen, wenn die Steuerfestsetzung bestandskräftig abgeschlossen ist (vgl. Reddig, jurisPR-SteuerR 36/2024 Anm. 1).
5. Der gegenüber einer Finanzbehörde geltend gemachte Auskunftsanspruch nach Art. 15 DSGVO kann nicht mit dem Argument abgelehnt werden, der Anspruchsberechtigte mache keine datenschutzrechtliche (sondern „nur“ eine steuerrechtliche) Begründung geltend. Der Anspruch muss auch erfüllt werden, wenn der Antragsteller seinen Anspruch gar nicht begründet (vgl. BFH, Urt. v. 12.03.2024 - a.a.O. Rz 27; Reddig, jurisPR-SteuerR 36/2024 Anm. 1). Ein Ausschluss des Auskunftsrechts nach Art. 15 DSGVO kommt gemäß Art. 12 Abs. 5 Satz 2 DSGVO nur in Betracht, wenn sich der Verantwortliche hierauf beruft und darlegt, dass ein offensichtlich unbegründeter oder exzessiver Antrag vorliegt (vgl. BFH, Urt. v. 12.03.2024 - IX R 35/21 Rn. 30 ff.)
6. Allerdings besteht nach Art. 15 Abs. 3 Satz 1 DSGVO – unter Berücksichtigung der Rechte und Freiheiten anderer – nur dann ein Anspruch darauf, eine Kopie von Auszügen aus Dokumenten oder gar von ganzen Dokumenten oder auch von Auszügen aus Datenbanken zu erhalten, wenn die Zurverfügungstellung einer Kopie unerlässlich ist, um der betroffenen Person die wirksame Ausübung der ihr durch die DSGVO verliehenen Rechte zu ermöglichen. Eine Vermutung hierfür besteht nicht; vielmehr obliegt es der betroffenen Person, darzulegen, dass die Kopie der personenbezogenen Daten sowie die Mitteilung der Informationen nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. a bis h DSGVO für die Wahrnehmung der ihr durch die DSGVO verliehenen Rechte nicht genügt (vgl. BFH, Urt. v. 12.03.2024 - IX R 35/21 Rn. 28). Da der Verantwortliche im Falle des Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 DSGVO eine (elektronische) Kopie der personenbezogenen Daten und unter gewissen Umständen auch der Quellen, in denen solche Daten verarbeitet wurden, zur Verfügung zu stellen hat, steht es insofern nicht im Belieben des FA, das Auskunftsbegehren durch die Gewährung von Akteneinsicht zu erfüllen.
III. Darüber hinaus ist höchstrichterlich geklärt, dass die AO keine Regelung enthält, nach der ein Anspruch auf Akteneinsicht besteht. Insbesondere ist ein solches Einsichtsrecht weder aus § 91 Abs. 1 AO noch aus § 364 AO bzw. dem jeweils dazu ergangenen Anwendungserlass zur AO abzuleiten (vgl. BFH, Urt. v. 07.05.2024 - IX R 21/22 Rn. 14 m.w.N. - BFH/NV 2024, 1070). Ebenso erwächst weder aus dem Recht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG noch aus dem Rechtsstaatsprinzip i.S.v. Art. 20 Abs. 3 GG (vgl. BFH, Urt. v. 19.03.2013 - II R 17/11 Rn. 11 - BStBl II 2013, 639) noch – wie der BFH in der vorliegenden Entscheidung erneut darlegt – aus Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUGrdRCH) ein gebundener Anspruch auf Akteneinsicht (vgl. BFH, Urt. v. 07.05.2024 - IX R 21/22 Rn. 17 - BFH/NV 2024, 1070).
1. Soweit demgegenüber einem während eines Verwaltungsverfahrens um Akteneinsicht ersuchenden Steuerpflichtigen bzw. seinen Vertreter nach ständiger Rechtsprechung des BFH allerdings ein Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensentscheidung (§ 5 AO) der Behörde zusteht (vgl. BFH, Beschl. v. 05.12.2016 - VI B 37/16 Rn. 3 m.w.N. - ZInsO 2017, 780), macht der IX. Senat in der Besprechungsentscheidung einerseits deutlich, dass die Finanzbehörde ihr diesbezügliches Ermessen zunächst einmal überhaupt ausüben muss und darüber hinaus, welche Kriterien die Behörde dabei zu beachten hat. Danach erfordert die Ermessensentscheidung über ein Auskunftsverlangen eine Abwägung der beiderseitigen Interessen des Auskunftsuchenden an der Auskunft bzw. der Finanzbehörde an der Nichterteilung der Auskunft. Im Rahmen der Ermessensentscheidung hat die Finanzbehörde insbesondere zu berücksichtigen, ob der Auskunftsuchende ein berechtigtes Interesse an der Auskunft dargelegt hat oder ein solches Interesse aus den Umständen des Einzelfalles erkennbar ist. Weiter ist für die Ermessensabwägung maßgebend, ob die Auskunft der Wahrnehmung von Rechten in einem bestehenden Steuerrechtsverhältnis dienen kann (vgl. BFH, Urt. v. 19.03.2013 - II R 17/11 Rn. 13 - BStBl II 2013, 639). Eine gerichtliche Überprüfung der behördlichen Ermessensentscheidung findet nur in den Grenzen des § 102 FGO statt, wobei maßgeblicher Zeitpunkt für diese Überprüfung der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung ist (vgl. u.a. BFH, Urt. v. 12.05.2016 - II R 17/14 Rn. 19 - BStBl II 2016, 822).
2. Der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über einen Antrag auf Einsicht in eine Steuerakte außerhalb eines finanzgerichtlichen Verfahrens besteht jedoch nicht, wenn der Steuerpflichtige für den betroffenen Besteuerungszeitraum bereits bestandskräftig veranlagt wurde und die Einsichtnahme der Verfolgung steuerverfahrensfremder Zwecke (z.B. Prüfung eines Schadensersatzanspruchs gegen den ehemaligen Steuerberater) dienen soll (vgl. u.a. BFH, Urt. v. 07.05.2024 - IX R 21/22 Rn. 15 ff.- BFH/NV 2024, 273).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Mit den jüngsten Entscheidungen und den darin aufgestellten – vorstehend skizzierten – Rechtsgrundsätzen hat der IX. Senat des BFH wesentliche Entscheidungskriterien für die praktische Rechtsanwendung aufgezeigt und damit Klarheit geschaffen. Dies gilt insbesondere bezüglich der Kernaussagen, dass die DSGVO Geltung in allen Bereichen des Steuerrechts entfaltet, Art. 15 DSGVO insofern allerdings allein ein Recht auf Auskunftserteilung und auf Zurverfügungstellung von Kopien der personenbezogenen Daten gewährt und keine Rechtsgrundlage für einen generellen Anspruch auf Akteneinsicht darstellt. Abweichend zum Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über einen Antrag auf Akteneinsicht kommt der Auskunftsanspruch aus Art. 15 DSGVO jedoch auch außerhalb eines laufenden Besteuerungs-, sonstigen Verwaltungs- bzw. Rechtsbehelfsverfahrens in Betracht. Zu beachten ist darüber hinaus, dass die Geltendmachung des Auskunftsbegehrens i.S.d. Art. 15 DSGVO (als Regelfall) grundsätzlich zwar keiner Begründung bedarf. Begehrt die betroffene Person indes (als Ausnahmefall) die Zurverfügungstellung von Kopien von Dokumenten mit ihren personenbezogenen Daten, ist es an ihr zu benennen, welche ihr durch die DSGVO verliehenen Rechte sie auszuüben gedenkt und darzulegen, aus welchen Gründen die Zurverfügungstellung von Kopien von Akten mit personenbezogenen Daten hierfür unerlässlich ist. Insofern betrifft das Darlegungserfordernis nicht den Auskunftsanspruch dem Grunde nach, sondern dessen Inhalt.
Durch die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung sind allerdings noch nicht alle Fragen zur Anwendung der DSGVO im Steuerrecht beantwortet. Dies gilt beispielsweise bezüglich der konkreten Kriterien für einen offenkundig unbegründeten oder – insbesondere im Fall von häufiger Wiederholung – exzessiven Antrag einer betroffenen Person i.S.d. Art. 12 Abs. 5 Satz 2 Buchst. b DSGVO bzw. den Voraussetzungen, unter denen die Finanzverwaltung sich weigern kann, aufgrund des Antrags tätig zu werden. Fest steht insofern allerdings, dass ein Ausschluss des Auskunftsrechts nach Art. 12 Abs. 5 Satz 2 Buchst. b DSGVO nur in Betracht kommt, wenn sich der Verantwortliche hierauf beruft und darlegt, dass ein offenkundig unbegründeter oder exzessiver Antrag vorliegt.



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