Unkenntnis der Finanzbehörde bei einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AOLeitsätze 1. Zur Beantwortung der Frage, ob die Finanzbehörde Kenntnis von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen hat, ist auf diejenigen Personen abzustellen, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde organisationsmäßig für die Bearbeitung des Steuerfalls berufen sind beziehungsweise die den (zu ändernden) Steuerbescheid erlassen haben. 2. Elektronische Daten, die nicht automatisch zur Papierakte/elektronischen Akte gelangen, sondern lediglich auf Datenspeichern der Finanzbehörde zum Abruf bereitliegen, sind nicht schon deshalb bekannt i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO weil sie mit der Steuernummer des Steuerpflichtigen verknüpft sind. - A.
Problemstellung Streitig ist, ob die Kläger, die für die Streitjahre (2009 und 2010) keine Einkommensteuererklärungen abgaben, dadurch eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen beziehungsweise eine leichtfertigen Steuerverkürzung begingen und das FA deshalb aufgrund der verlängerten Festsetzungsfrist im Jahr 2018 noch Schätzungsbescheide für die Streitjahre erlassen durfte.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Die verheirateten Kläger wurden für die Streitjahre zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 2008 erzielte lediglich der Kläger Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit, wobei sein Lohnsteuerabzug nach der Steuerklasse III erfolgte. Die Kläger reichten bis zum Veranlagungszeitraum 2008 regelmäßig Einkommensteuererklärungen ein. Das FA speicherte den Steuerfall als Antragsveranlagung. In den Streitjahren erzielte auch die Klägerin Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit. Weitere Einkünfte erzielten die Kläger nicht. Der Lohnsteuerabzug des Klägers erfolgte weiterhin nach der Steuerklasse III, derjenige der Klägerin nach der Steuerklasse V. Ihr Steuerfall blieb beim FA als Antragsveranlagung gespeichert. Die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen wurden dem FA von den jeweiligen Arbeitgebern übermittelt und im Datenverarbeitungsprogramm unter der Steuernummer der Kläger in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar erfasst. Außerdem händigten die Arbeitgeber den Klägern Ausdrucke der jeweiligen elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen aus, auf denen vermerkt war, dass die Daten maschinell an die Finanzverwaltung übertragen worden seien. Steuererklärungen reichten die Kläger – obwohl gemäß § 149 Abs. 1 Satz 1 AO und § 25 Abs. 3 EStG i.V.m. § 56 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b der EStDV und § 46 Abs. 2 Nr. 3a EStG verpflichtet – für die Streitjahre nicht mehr ein. Aufforderungen zur Abgabe der Einkommensteuererklärungen erließ das FA nicht. Die wesentlichen Veranlagungsarbeiten (zu 95%) schloss es für das Streitjahr 2009 am 31.03.2011 und für das Streitjahr 2010 am 31.03.2012 ab. Anfang des Jahres 2018 fiel bei Bearbeitung einer von der OFD übersandten eDaten-Prüfliste auf, dass mit Aufnahme der nichtselbstständigen Arbeit durch die Klägerin im Jahr 2009 ein Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung erfolgt war und die Kläger daher entsprechend verpflichtet gewesen wären, Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre abzugeben. Am 08.06.2018 erließ das FA daraufhin für die Streitjahre Schätzungsbescheide. Der hiergegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gab das FG statt. Es war im Wesentlichen der Ansicht, dass der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) nicht erfüllt sei, weil dem zuständigen Bearbeiter die für eine Veranlagung der Kläger erforderlichen Informationen abrufbar zur Verfügung gestanden hätten. Das FA habe deshalb zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen Kenntnis gehabt (FG Münster, Urt. v. 24.06.2022 - 4 K 135/19 E - EFG 2022, 1429). Auf die Revision des FA hob der BFH die Vorentscheidung auf und wies die nicht spruchreife Sache an das FG zurück. Das FG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Kläger den objektiven Tatbestand einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen beziehungsweise einer leichtfertigen Steuerverkürzung nicht erfüllt hätten. Es habe daher keine hinreichenden Feststellungen zum subjektiven Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO beziehungsweise für das Streitjahr 2010 ggf. einer leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO) getroffen. Dies habe es im zweiten Rechtsgang nachzuholen.
- C.
Kontext der Entscheidung I. Ob eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt, bestimmt sich auch bei Prüfung der Festsetzungsverjährung gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nach den §§ 370, 378 AO, da § 169 AO diesbezüglich keine Legaldefinition enthält (z.B. BFH, Urt. v. 02.04.2014 - VIII R 38/13 - BStBl II 2014, 698; Steinhauff, jurisPR-SteuerR 40/2014 Anm. 3). Hinterzogen sind die Beträge, für die der objektive und subjektive Tatbestand des § 370 Abs. 1 AO, leichtfertig verkürzt die Beträge, für die der objektive und subjektive Tatbestand des § 378 Abs. 1 AO erfüllt sind. § 378 Abs. 1 AO setzt hinsichtlich der Tathandlung die Verwirklichung einer Tatbestandsvariante des § 370 Abs. 1 AO voraus. Die Tat muss vollendet sein. Der bloße Versuch einer Steuerhinterziehung oder einer leichtfertigen Steuerverkürzung führt nach dem klaren Wortlaut des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nicht zu einer Verlängerung der Festsetzungsfrist. Nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO begeht eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen, wer vorsätzlich die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt. Ob ein tatbestandsmäßiges In-Unkenntnis-Lassen bereits dann vorliegt, wenn Steuererklärungen – wie vorliegend – pflichtwidrig nicht oder nicht rechtzeitig abgegeben werden (so insbesondere LG Aurich, Urt. v. 08.11.2017 - 12 Ns 310 Js 8712/15 (158/15) - wistra 2018, 179; Klein/Jäger, AO, 18. Aufl., § 370 Rn. 60b; Roth, NZWiSt 2017, 308; Deckers, NZWiSt 2019, 146; Madauß, NZWiSt 2022, 72; Rolletschke, NZWiSt 2022, 500; offengelassen: BayObLG, Beschl. v. 14.03.2002 - 4 St RR 8/2002 - BayObLGSt 2002, 54), oder ob die Norm im Sinne eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals darüber hinaus erfordert, dass die Finanzbehörde im maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt (Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten) über den wahren Sachverhalt (die steuerlich erheblichen Tatsachen) (noch) keine Kenntnis hat (so z.B. OLG Köln, Urt. v. 31.01.2017 - III 1 RVs 253/16 - wistra 2017, 363; OLG Oldenburg, Beschl. v. 10.07.2018 - 1 Ss 51/18 - NZWiSt 2019, 145; FG Düsseldorf, Urt. v. 26.05.2021 - 5 K 143/20 U - wistra 2021, 331; Wild, jurisPR-SteuerR 49/2021 Anm. 1; Stark-Lütke Schwienhorst/Hoyer in: Gosch, AO § 370 Rn. 79; Krumm in: Tipke/Kruse, § 370 AO Rn. 73; Grötsch/Stürzl, wistra 2019, 127), hat der erkennende Senat im Streitfall offenlassen können. Denn entgegen der Auffassung der Vorinstanz hatte das FA zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen jedenfalls noch keine Kenntnis. II. Bei der Hinterziehung von Veranlagungssteuern durch Unterlassen tritt – sofern nicht vorher ein Schätzungsbescheid ergangen ist – der Taterfolg der Steuerverkürzung zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Veranlagung stattgefunden hätte, wenn die Steuererklärung pflichtgemäß eingereicht worden wäre. Dies ist spätestens dann der Fall, wenn das zuständige FA die Veranlagungsarbeiten für die betreffende Steuerart und den betreffenden Zeitraum im Wesentlichen abgeschlossen hat (ständige Rechtsprechung, z.B. BGH, Beschl. v. 04.11.2021 - 1 StR 236/21 - wistra 2022, 204 m.w.N.; Schützeberg, jurisPR-SteuerR 17/2022 Anm. 3). Ob die Finanzbehörde Kenntnis von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen hat, ist nach dem Wissen derjenigen Personen zu bestimmen, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde organisationsmäßig für die Bearbeitung des Steuerfalls berufen sind beziehungsweise die den (zu ändernden) Steuerbescheid erlassen haben (vgl. auch BGH, Urt. v. 19.10.1999 - 5 StR 178/99 - BStBl II 1999, 854 zu § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO). Dabei muss sich die Finanzbehörde den gesamten Inhalt der bei ihr geführten Papierakten, aber ebenso auch einer elektronisch geführten Akte als bekannt zurechnen lassen. Bekannt sind neben dem Inhalt dieser geführten Akten auch sämtliche Informationen, die dem Sachbearbeiter von anderen (Dienst-)Stellen über ein elektronisches Informationssystem zur Verfügung gestellt werden, ohne dass es insoweit auf die individuelle Kenntnis des jeweiligen Bearbeiters ankommt. Dagegen sind elektronische Daten, die wie hier nicht automatisch zur Papierakte/elektronischen Akte gelangen und lediglich auf abrufbaren Datenspeichern der Finanzbehörde liegen, nicht bekannt. Die dies gilt auch dann, wenn die Daten wie vorliegend mit der Steuernummer des Steuerpflichtigen verknüpft sind.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Das FG ist im Streitfall zu Unrecht von einer den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ausschließenden Kenntnis des sachlich zuständigen Bearbeiters im maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt ausgegangen. Denn der Steuerfall der Kläger blieb auch in den Streitjahren als Antragsveranlagung gespeichert. Die mit den elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen an das FA übermittelten Daten waren zwar mit der gemeinsamen Steuernummer der Kläger verknüpft und dieser tatsächlich zugeordnet. Sie waren aber nur aus einem Datenspeicher in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar, ohne dass sie bereits automatisch zu einer Papierakte oder elektronischen Akte gelangt waren. Angesichts der Speicherung als Antragsveranlagung bestand für den Bearbeiter keine Veranlassung zur Einsicht in den Datenspeicher und zum Datenabruf. Kenntnis von dem steuerrelevanten Tatbestand (den Einkünften auch der Klägerin und der damit aufgrund der gewählten Steuerklassen III und V bestehenden Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen) hat der sachlich zuständige Bearbeiter vielmehr erstmals Anfang des Jahres 2018 durch die von der OFD übersandte eDaten-Prüfliste erlangt.
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