Haftungsquote bei einem ParkplatzunfallOrientierungssätze zur Anmerkung 1. Biegt ein Fahrzeugführer im Parkplatzbereich direkt vor einem ihm entgegenkommenden Fahrzeug ab und kommt es dadurch zur Kollision, haftet er für die damit verbundenen Unfallfolgen wegen eines Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO i.V.m. § 9 Abs. 3 StVO. 2. Den Fahrzeugführer im Gegenverkehr auf dem Parkplatz trifft jedoch der Vorwurf eines Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO, wenn er nach eigenen Angaben statt Schrittgeschwindigkeit mit 15-20 km/h gefahren ist und dadurch auch eine entscheidende Unfallursache gesetzt hat. 3. Der Verursachungsbeitrag des unachtsamen Abbiegens wiegt aber deutlich schwerer als das Überschreiten der Schrittgeschwindigkeit, so dass den abbiegenden Fahrzeugführer die überwiegende Haftungsquote von zwei Dritteln trifft. - A.
Problemstellung Das LG Darmstadt hatte über die Haftungsquote bei der Kollision in einem Parkplatzbereich zu entscheiden.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Der Kläger verlangte Schadensersatz für eine Kollision im Parkplatzbereich mit dem Fahrzeug der Beklagten zu 1. Diese war entsprechend den Erkenntnissen aus einem eingeholten Sachverständigengutachten direkt vor dem herannahenden Fahrzeug der Klägerseite quer über dessen gedachte Fahrbahn im Parkplatzbereich nach links in eine Parktasche abgebogen und dadurch war es zur Kollision der Fahrzeuge gekommen. Das LG Darmstadt hat dieses riskante Abbiegemanöver direkt vor ein herannahendes Fahrzeug als schwerwiegenden Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO i.V.m. § 9 Abs. 3 StVO bewertet. Aber auch den klägerischen Fahrzeugführer treffe eine erhebliche Mithaftung, da er deutlich schneller als Schrittgeschwindigkeit nach Bewertung der Kammer gefahren sei. Diese setze den Bereich der Schrittgeschwindigkeit bei max. 10 km/h an, so dass auch der klägerische Fahrzeugführer eine entscheidende Unfallursache gesetzt habe, da er nach dem eingeholten Sachverständigengutachten bei einer deutlich langsameren Geschwindigkeit rechtzeitig hätte reagieren und die Kollision hätte vermeiden können. Bei der Beurteilung der jeweiligen Verursachungsbeiträge hat das Gericht entsprechend der Wertung des § 9 Abs. 3 StVO die überwiegende Haftung auf der Beklagtenseite gesehen, da die dortige Fahrerin ein besonders gefahrenträchtiges Fahrmanöver mit dem Abbiegevorgang durchgeführt habe. Der Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot mit einer leicht höheren Geschwindigkeit als Schrittgeschwindigkeit sei zulasten der Klägerseite allerdings mit einer Mithaftung von einem Drittel zu bewerten, so dass die überwiegende Haftung auf der Beklagtenseite mit zwei Dritteln anzusetzen sei.
- C.
Kontext der Entscheidung Dem Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme kommt bei einem Verkehrsunfall auf dem Parkplatz eine besondere Bedeutung zu und darüber hinaus können die Wertungen bestimmter Kardinalvorschriften der StVO auch anzuwenden sein. Die Regeln der StVO sind auf einem öffentlich zugänglichen Parkplatz nämlich grundsätzlich anwendbar, so dass etwa von den Nutzern des Parkplatzes das sich aus § 1 Abs. 2 StVO ergebende Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme zu beachten ist (BGH, Urt. v. 15.12.2015 - VI ZR 6/15). Beispielsweise ist daher die Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter nicht unmittelbar anwendbar. Mittelbare Bedeutung erlangt sie aber über § 1 StVO (BGH, Urt. v. 26.01.2016 - VI ZR 179/15; im Überblick Nugel, DAR 2009, 721). Dies gilt grundsätzlich auch für andere Kardinalvorschriften – bei der Vorschrift zur Vorfahrtsbeachtung nach § 8 StVO allerdings nur, wenn auf dem Parkplatzgelände die vorhandenen Fahrbahnen deutlich als solche zu erkennen und vom Parkbuchtenbereich so abgetrennt sind, dass ihnen ein Straßencharakter innewohnt (BGH, Urt. v. 22.11.2022 - VI ZR 344/21). Vor diesem Hintergrund überzeugt es, wenn das LG Darmstadt bei einem riskanten Abbiegemanöver wie hier auch die Wertung des § 9 Abs. 3 StVO ins Spiel bringt und diesen Verursachungsbeitrag entsprechend hoch gewichtet.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Allerdings gibt es bei einem Verkehrsunfall auf einem Parkplatz keinen Vertrauensschutz, sondern der andere unfallbeteiligte Fahrzeugführer muss stets mit rangierenden oder abbiegenden Fahrzeugen rechnen und hat dabei eine Schrittgeschwindigkeit einzuhalten. Denn anders als im fließenden Verkehr auf der Straße mit seinen typischerweise schnellen Verkehrsabläufen, bei denen der Verkehrsteilnehmer grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass der Verkehrsfluss nicht gestört und sein Vorrang etwa von dem aus einer Parkbucht Einfahrenden beachtet wird, gilt in der Situation auf dem Parkplatz ein solcher Vertrauensgrundsatz nicht (BGH, Urt. v. 17.01.2023 - VI ZR 203/22 - MDR 2023, 355). Hier muss der Verkehrsteilnehmer jederzeit damit rechnen, dass ausparkende Fahrzeuge den Verkehrsfluss auf der Fahrgasse, die auch der Erschließung der Parkmöglichkeiten durch Eröffnung von Rangierräumen dient (BGH, Urt. v. 22.11.2022 - VI ZR 344/21 Rn. 17) und dementsprechend mit besonderer Aufmerksamkeit nicht schneller als Schrittgeschwindigkeit fahren. Diese liegt üblicherweise bei 4-7 km/h (OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.06.2010 - I-1 U 240/09) bzw. zumindest bei nicht mehr als 10 km/h (OLG Hamm, Urt. v. 11.09.2012 - 9 U 32/12; OLG Saarbrücken, Urt. v. 02.02.2017 - 4 U 148/15). Hiergegen hat schon nach seinen eigenen Angaben der klägerische Fahrzeugführer verstoßen und dadurch eine entscheidende Unfallursache gesetzt. Dann ist es nur konsequent, seine Mithaftung in einem Bereich von 25 bis max. 50% – je nach der gefahrenen Geschwindigkeit – zu gewichten, und sicherlich gut vertretbar, in dem vorliegenden Einzelfall diese Mithaftung mit einem Drittel in die Haftungsabwägung einzustellen.
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