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Anmerkung zu:LG Berlin II 46. Zivilkammer, Urteil vom 04.06.2025 - 46 S 5/25
Autor:Rainer Wenker, Ass. jur.
Erscheinungsdatum:10.09.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 823 BGB, § 286 ZPO, § 9 StVG, § 18 StVG, § 7 StVG, § 4 BefBedV
Fundstelle:jurisPR-VerkR 18/2025 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Klaus Schneider, RA, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht und Notar
Zitiervorschlag:Wenker, jurisPR-VerkR 18/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Sturz eines Fahrgastes im abbremsenden Linienbus



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Der Fahrgast eines Linienbusses ist grundsätzlich selbst dafür verantwortlich, dass er durch typische Bewegungen des Busses nicht zu Fall kommt. Im Stadtverkehr muss ein Fahrgast jederzeit mit plötzlichen Bremsmanövern rechnen und daher stets für sicheren Halt sorgen.
2. Bei Unfällen mit Linienbussen verdrängt regelmäßig das Eigenverschulden des Fahrgastes, der sich nicht ausreichend festgehalten hat, die Gefährdungshaftung aus der einfachen Betriebsgefahr des Fahrzeugs.



A.
Problemstellung
Ein Linienbus musste wegen eines auf einem Zebrastreifen die Fahrbahn querenden Fußgängers abbremsen. Dadurch stürzte die in dem Bus als Fahrgast stehende Klägerin und machte Ansprüche wegen ihrer unfallbedingten Verletzungen geltend.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin, eine Seniorin, war Fahrgast in einem Linienbus und stürzte, als der Fahrer den Bus wegen eines die Fahrbahn auf einem „Zebrastreifen“ überquerenden Fußgängers abbremsen musste. Es gab nach den Aufnahmen der im Bus befindlichen Kamera keine Anhaltspunkte, dass der Fahrer verspätet reagiert hat und deswegen hätte scharf abbremsen müssen.
Das Amtsgericht hatte die Klage abgewiesen.
Die zulässige Berufung hatte in der Sache vor dem LG Berlin II keinen Erfolg.
Das Amtsgericht habe die Klage zu Recht abgewiesen. Ein Anspruch gegen den beklagten Fahrer aus § 823 BGB bestehe bereits deshalb nicht, weil ein Verschulden des Beklagten nicht i.S.d § 286 ZPO bewiesen sei. Ein solches ergebe sich insbesondere nicht aus dem, was sich aus der in der mündlichen Berufungsverhandlung nachgeholten Inaugenscheinnahme der Videoaufnahmen aus dem Bus der Beklagten ersehen lasse. Der beklagte Fahrer hätte schuldhaft gehandelt, wenn er zu spät auf den Fußgänger reagiert hätte und es dadurch zum Sturz der Klägerin gekommen wäre. Aufgrund der insoweit allein maßgeblichen Aufnahme aus der im Frontbereich des Busses befindlichen Kamera lasse sich das aber nicht feststellen. Dort könne man erst am Ende der Videosequenz einen Fußgänger erkennen, der die Straße über den „Zebrastreifen“ überqueren möchte. Eine Aussage darüber, ob der beklagte Fahrer es verabsäumt habe, früher zu reagieren, lasse sich auf dieser Grundlage nicht treffen, denn der Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung bleibe offen.
Es bestehen auch keine Ansprüche gegen den beklagten Fahrer aus § 18 Abs. 1 StVG. Zwar sei die Verschuldensvermutung gemäß § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG nicht widerlegt. Die gemäß § 9 StVG i.V.m § 254 BGB vorzunehmenden Haftungsabwägung führe allerdings dazu, dass eine Haftung des Fahrers nicht bestehe.
Die vom Bus ausgehende Betriebsgefahr trete vollständig zurück. Vorauszuschicken sei zunächst, dass das gemäß § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG nur vermutete Verschulden bei der Haftungsabwägung keine Rolle spiele (vgl. BGH, Urt. v. 20.03.2012 - VI ZR 3/11). Unter Berücksichtigung des erheblichen Mitverschuldens der Klägerin scheiden Ansprüche gegen den Fahrer gemäß § 18 StVG aus: Jeder Fahrgast sei verpflichtet, sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen (§ 4 Abs. 3 Satz 5 der Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Obusverkehr sowie Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen (BefBedV)). Er sei grundsätzlich selbst dafür verantwortlich, dass er durch typische oder zu erwartende Bewegungen des Busses nicht zu Fall komme. Hierfür sei es jedenfalls bei einem fortgeschrittenen Alter eines Fahrgastes – wie hier – erforderlich, dass er sich mit beiden Händen an der Haltestange festhalte (vgl. OLG Schleswig, Urt. v. 25.04.2023 - 7 U 125/22).
Die Klägerin habe zu keinem Zeitpunkt behauptet, sich mit beiden Händen festgehalten zu haben. Aus den Videoaufnahmen ergebe sich, dass dies auch nicht der Fall war. Dort sei ebenfalls zu sehen, dass die Klägerin die Haltestange rechts neben der Tür selbst mit einer Hand zu keinem Zeitpunkt fest umschlossen hatte. Allenfalls habe die Klägerin sie vor dem Sturz kurzzeitig berührt. Hinzu komme, dass die Klägerin ohne Weiteres die Möglichkeit gehabt hätte, das Erreichen der Bushaltestelle und den Stillstand des Busses abzuwarten, bevor sie sich in Richtung der Tür bewegt habe. Sie habe sich nämlich – auch das lasse sich der Videoaufnahme entnehmen – von Beginn an in der Nähe der Tür aufgehalten und der Bus sei nahezu leer gewesen. Es habe also nicht die geringste Veranlassung bestanden, sich während der Fahrt im Bus fortzubewegen. Gewichte man das gesamte Verhalten der Klägerin, gebe es für eine Mithaftung des beklagten Fahrers keine Grundlage.
Ansprüche der Klägerin gegen die ebenfalls beklagte Halterin des Linienbusses gemäß § 7 Abs. 1 StVG und § 831 BGB bestehen ebenfalls nicht. Auch hier rechtfertige es das erhebliche Mitverschulden der Klägerin, dass sie die ihr entstandenen Schäden allein tragen müsse.


C.
Kontext der Entscheidung
Nach § 4 Abs. 3 Satz 5 BefBedV und dem insoweit gleichlautenden § 14 Abs. 3 Nr. 4 BOKraft sind Fahrgäste im Linienverkehr verpflichtet, sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen. Die BefBedV zum PBefG gelten für die Beförderung unter anderem im Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen. Die BOKraft gilt für Unternehmen der gewerblichen Personenbeförderung. Es obliegt den Fahrgästen daher grundsätzlich zur Vermeidung einer eigenen Gefährdung für die persönliche Sicherheit zu sorgen und – soweit möglich – einen Sitzplatz einzunehmen. Dies gilt sowohl beim An- und Abfahren an der Haltestelle als auch während der Fahrt, denn auch während der Fahrt ist jederzeit mit abrupten Fahrmanövern oder scharfem Bremsen zu rechnen (vgl. OLG Schleswig, Urt. v. 25.04.2023 - 7 U 125/22 m. Anm. Wenker, jurisPR-VerkR 18/2023 Anm. 1; KG, Beschl. v. 28.10.2010 - 12 U 62/10 m. Anm. Wenker, jurisPR-VerkR 26/2010 Anm. 2 und OLG Hamm, Urt. v. 08.09.1999 - 13 U 45/99). Vorliegend hätten der im Unfallzeitpunkt stehenden Klägerin nach den Feststellungen des Gerichts sogar freie Sitzplätze zur Verfügung gestanden.
Bei der Abwägung des schuldhaften Verhaltens des Fahrgastes wegen mangelnder Eigensicherung gegenüber der Betriebsgefahr des Linienbusses tritt nach wohl einhelliger Rechtsprechung die einfache Betriebsgefahr des Linienbusses hinter die Fahrlässigkeit des Fahrgastes zurück, so dass eine alleinige Haftung des Fahrgastes verbleibt (vgl. ebenso KG, Beschl. v. 29.06.2010 - 12 U 30/10 m. Anm. Wenker, jurisPR-VerkR 18/2010 Anm. 3; KG, Beschl. v. 01.03.2010 - 12 U 95/09; OLG Frankfurt, Urt. v. 15.04.2002 - 1 U 75/01 und OLG Oldenburg, Urt. v. 06.07.1999 - 5 U 62/99). Diese Rechtsprechung wird vorliegend auch von der Berufungskammer des Landgerichts bestätigt. Bei einem Sturz des Fahrgastes gibt es dementsprechend auch keinen Anscheinsbeweis für eine insoweit kausale sorgfaltswidrige Fahrweise des Busfahrers.
Nur bei Vorliegen besonderer Umstände des Einzelfalles kann die Haftungsabwägung deshalb zu einer Mithaftung aus der Betriebsgefahr des Busses oder einem Verschulden des Busfahrers führen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Busfahrer einen Fahrfehler begangen oder schuldhaft einen bevorrechtigten Verkehrsteilnehmer übersehen hat und daher eine Notbremsung einleiten musste. Dann kann die Haftungsabwägung bei einer für die Businsassen ebenso plötzlichen wie unvorhersehbaren Notbremsung risikogerecht zu einer hälftigen Schadensteilung führen (vgl. auch OLG Schleswig, Urt. v. 25.04.2023 - 7 U 125/22 m. Anm. Wenker, jurisPR-VerkR 18/2023 Anm. 1; OLG Hamm, Urt. v. 27.05.1998 - 13 U 29/98 und OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.06.1972 - 1 U 251/71).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Jeder Fahrgast ist im Linienverkehr selbst dafür verantwortlich, durch festen Halt im Fahrzeug stets für die eigene Sicherheit zu sorgen. Dies gilt sowohl beim Anfahren, beim Anhalten als auch während der Fahrt eines Linienbusses. Insbesondere im Stadtverkehr muss ein Fahrgast jederzeit mit plötzlichen Bremsmanövern rechnen und daher auch bei ausgelöstem Haltesignal so lange sitzen bleiben, bis der Bus die Haltestelle erreicht hat. Nach gefestigter Rechtsprechung tritt deshalb grundsätzlich die einfache Betriebsgefahr des Fahrzeugs hinter dem fahrlässigen Eigenverschulden des Fahrgastes, der sich pflichtwidrig nicht ausreichend festhält, zurück.
Nur bei Vorliegen besonderer Umstände kann sich das Eigenverschulden des Fahrgastes reduzieren. So kommt eine hälftige Schadensteilung in Betracht, wenn der Busfahrer wegen eines Fahrfehlers schuldhaft eine Notbremsung vornehmen musste, etwa weil er einen anderen Verkehrsteilnehmer übersehen hat.



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