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Anmerkung zu:OLG Hamm 7. Zivilsenat, Beschluss vom 30.12.2024 - I-7 U 5/24
Autor:Timo Karle, Richter, z.Z. abgeordnet an das Bayerische Staatsministerium der Justiz
Erscheinungsdatum:08.10.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 823 BGB, § 522 ZPO, § 24 StVO, § 7 StVG, § 18 StVG, § 286 ZPO, § 5 StVO, § 16 StVO, § 1 StVO
Fundstelle:jurisPR-VerkR 20/2025 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Klaus Schneider, RA, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht und Notar
Zitiervorschlag:Karle, jurisPR-VerkR 20/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Haftung eines Pedelec-Fahrers beim Überholen eines Inline-Skaters



Leitsatz

Zur Haftung eines Pedelec-Fahrers aus § 823 Abs. 1 BGB beim Überholen eines Inline-Skaters auf einem Fahrradweg wegen Nichteinhaltung des gebotenen Abstands (§ 5 Abs. 4 Satz 2 StVO) und wegen unzureichender Warnung (§ 1 Abs. 2, § 16 Abs. 1 Nr. 2 StVO).



A.
Problemstellung
Das OLG Hamm hat sich in Form eines Hinweisbeschlusses gemäß § 522 Abs. 2 ZPO mit den Sorgfaltspflichten beim Überholvorgang für einen Pedelec-Fahrer außerhalb der von Kraftfahrzeugen genutzten Fahrbahn befasst.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Ursache des Rechtsstreits war der Sturz eines Inline-Skaters, der spätere Kläger, infolge eines Überholmanövers eines Pedelec-Fahrers, des späteren Beklagten. Das Landgericht hatte in erster Instanz eine alleinige Haftung des Beklagten auf Grundlage von § 823 Abs. 1 BGB bejaht und ein angemessenes Schmerzensgeld festgesetzt.
Auf Tatsachenebene war unstreitig, dass der Kläger den 2,20 m breiten Weg – wobei offenbar streitig war und auch in zweiter Instanz dahinstehen konnte, ob es sich um einen reinen Gehweg oder einen kombinierten Geh- und Radweg handelte (Rn. 6) – mittig befahren hatte und der Beklagte in der Annäherung von hinten nicht geklingelt hatte. Streitig war dagegen, ob der Beklagte „Vorsicht“ gerufen hatte (Rn. 12) und auch, ob es beim Passieren des Klägers durch den Beklagten überhaupt zu einer Berührung der Parteien gekommen war, die kausal für den Sturz des Klägers war.
Das OLG Hamm hat die Entscheidung des Landgerichts im Wege des Beschlusses gemäß § 522 Abs. 2 ZPO bestätigt, wobei der Senat zu der Auffassung gelangte, die in tatsächlicher Hinsicht streitigen Fragen offenlassen zu können und insbesondere nicht auf sachverständige Hilfe angewiesen zu sein:
Eine Gefährdungshaftung nach § 7 Abs. 1 StVG scheide aufgrund der Legaldefinition des § 1 Abs. 3 Satz 1 StVG („Pedelecs sind bei Unterstützung bis maximal 25 km/h keine Kraftfahrzeuge i.S.d. StVG“) aus. Der Kläger sei gemäß § 24 Abs. 1 StVO („Inline-Skates sind keine Fahrzeuge i.S.d. StVO“) rechtlich als Fußgänger zu behandeln.
Auf Grundlage der Feststellungen des Amtsgerichts ergeben sich dann nach Auffassung des Senats gleich zwei Verstöße des Beklagten gegen verkehrsrechtliche Sorgfaltsnormen: Erstens habe der Beklagte gegen § 5 Abs. 4 Satz 2 StVO, d.h. die Pflicht zum Einhalten eines ausreichenden Seitenabstandes beim Überholen, verstoßen. Ohne sich auf einen konkreten vom Beklagten einzuhaltenden Abstand festzulegen, gelangt der Senat aufgrund einer simplen Rechnung zu dieser Feststellung: Von der Mitte des Weges bis zum Rand haben nur 1,10 m (die Hälfte von 2,20 m) zur Verfügung gestanden. Auch wenn der Beklagte „auf der Kante der Grasnarbe“ gefahren sei, sei damit „ersichtlich“, dass unter Berücksichtigung der Breite des Pedelecs (insbesondere des Lenkers) und des Klägers selbst kein hinreichender „lichter Raum“ (Rn. 9) mehr zur Verfügung gestanden habe.
Zweitens sei der Beklagte gemäß den §§ 1 Abs. 2, 16 Abs. 1 Nr. 2 StVO auch verpflichtet gewesen, durch Warnzeichen – hier: Nutzung der Klingel – auf sich aufmerksam zu machen. Hierzu sei verpflichtet, wer auf einem schmalen Radweg bzw. allgemein an gefährlichen Stellen im Begriff sei, einen anderen Verkehrsteilnehmer durch Überholen zu gefährden. Dem sei der Beklagte schon nach eigener Angabe (dem behaupteten Ruf „Vorsicht“) nicht gerecht geworden, da der Kläger unstreitig jedenfalls nicht für den Beklagten ersichtlich auf diesen behaupteten Ruf reagiert hatte und der Beklagte somit nicht habe davon ausgehen können, dass der Kläger ihn – sollte es den Ruf gegeben haben – gehört hatte.
Nach Feststellung der (doppelten) Verkehrswidrigkeit wendet sich der Senat der Kausalität dieses Verhaltens für den Sturz des Klägers zu (Rn. 13 ff.): Insofern sei nicht entscheidend (und könne folglich dahinstehen), ob es überhaupt eine Berührung gegeben habe. Auch ohne Berührung sei der Senat nämlich davon überzeugt, dass das Fahrmanöver des Beklagten den Kläger aus dem Tritt gebracht habe. Hierfür streite ein Anscheinsbeweis (Rn. 16): Aus einem nach Ansicht des Senats typischen Geschehensablaufs – Überholen eines mittig fahrenden Inline-Skaters durch einen Pedelec-Fahrer auf engem Raum und Sturz des Inline-Skaters in räumlich-zeitlichem Zusammenhang hiermit – ergebe sich die Vermutung dafür, dass dieses Überholmanöver auch kausal für den Sturz gewesen sei.
Dieser Anscheinsbeweis sei durch die Angaben des Beklagten zum Weg-Zeit-Ablauf nicht erschüttert und auch ein unfallanalytisches Gutachten zur weiteren Aufklärung nicht notwendig bzw. ungeeignet. Dies begründet der Senat mit Hinweis auf die auch nach Vortrag des Beklagten teilweise unplausiblen, teilweise nicht bekannten Anknüpfungstatsachen für ein derartiges Gutachten (Rn. 17 ff.).
In Bezug auf die Haftungsfrage sei ein anspruchsminderndes Mitverschulden des Klägers zu verneinen. Ein solches ergebe sich weder aus der mittigen Fahrweise auf dem Weg noch aus dem unterlassenen Tragen von Protektoren (Rn. 20 ff.). Letzteres war in zweiter Instanz auch nicht mehr angegriffen worden.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung berührt bei genauer Betrachtung zwei verschiedene, sich teilweise überschneidende Themenkreise im besonderen „Gewand“ des Zusammentreffens von Fahrrad und Fußgänger (jeweils im rechtlichen Sinne):
Den im konkreten Fall eher einfacher zu behandelnden Aspekt stellen dabei die Pflichten beim Überholen dar: § 5 Abs. 4 Satz 2 StVO stellt dabei die Grundregel auf, dass stets ein „ausreichender“ Seitenabstand einzuhalten sei. Dieser Grundsatz gilt für jegliches Überholen, also auch für Radfahrer (im rechtlichen Sinne) beim gegenseitigen Überholen und auch beim Überholen von Fußgängern; (nur) für das Überholen mit Kraftfahrzeugen von zu Fuß Gehenden, Rad Fahrenden und Elektrokleinstfahrzeugführenden wird dann in Satz 3 ein konkreter Abstand in der Verordnung festgeschrieben. Im Übrigen bestimmt sich der „ausreichende“ Abstand nach Fahrzeugart, Fahrgeschwindigkeit, Fahrbahnverhältnissen, Wetter und Eigenart des Eingeholten (statt vieler: OLG Brandenburg, Urt. v. 07.04.2011 - 12 U 6/11; Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 5 StVO Rn. 77, Stand: 30.07.2025).
Als (unverbindliche) Faustregel wird vielerorts ein Mindestabstand von einem Meter genannt, jedoch sind die von überholenden Radfahrern im Vergleich zu Kraftfahrzeugen einzuhaltenden Abstände grundsätzlich (!) als geringer einzuschätzen (geringere absolute Geschwindigkeit und geringere Geschwindigkeitsdifferenz zwischen Überholendem und Überholtem). In Gegenwart und Vergangenheit sahen sich Gerichte aufgrund der unbestimmten Vorgabe des Verordnungsgebers auf dieser Grundlage gezwungen zu definieren, welcher Abstand für einen überholenden Radfahrer noch (beispielhaft: OLG Frankfurt, Urt. v. 29.11.1989 - 17 U 129/88) oder eben nicht mehr (beispielhaft: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.05.2016 - 9 U 115/15; LG Lübeck, Urt. v. 24.06.2011 - 6 O 497/10) ausreichend war. Im hier zugrunde liegenden Sachverhalt konnte sich das Oberlandesgericht wegen der unstreitigen Positionierung des Klägers in der Mitte des Weges mit einer einigermaßen simplen Rechnung begnügen (1,10 Meter von der Mitte bis zum Rand ergibt abzüglich ca. der Hälfte der Körperbreite des Klägers und einer Lenkerbreite von durchschnittlich ca. 60 cm einen seitlichen Abstand von deutlich unter 50 cm) und so die Sorgfaltswidrigkeit ohne konkrete Festlegung auf einen (noch) ausreichenden Abstand feststellen.
Einen höheren Begründungsaufwand erforderte die Feststellung der haftungsbegründenden Kausalität. Zur Erinnerung: Der Senat hatte gerade offengelassen, ob es überhaupt eine Berührung zwischen Kläger und Beklagten gab, so dass die Kausalität zwischen der festgestellten Sorgfaltspflichtverletzung und dem Sturz nicht ohne Weiteres auf der Hand lag.
Im Rahmen der Gefährdungshaftung gemäß den §§ 7, 18 StVG haben sich für die Abgrenzung, wann eine Rechtsgutverletzung sich noch in Zusammenhang mit dem „Betrieb“ eines Kraftfahrzeuges ereignet, in der Rechtsprechung feste Grundsätze herausgebildet: Ein Schaden ist bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kraftfahrzeugs entstanden, wenn sich von einem Kfz ausgehende Gefahren ausgewirkt haben. Dabei reicht jedoch die bloße Anwesenheit an der Unfallstelle nicht aus. Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs des Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis ist daher, dass über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus das Fahrverhalten seines Fahrers in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners beeinflusst hat (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urt. v. 22.11.2016 - VI ZR 533/15 m.w.N.). Ein Unfall kann insbesondere auch dann dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs zugerechnet werden, wenn er durch eine Ausweichreaktion im Zusammenhang mit einem Überholvorgang des anderen Fahrzeugs ausgelöst worden ist (OLG Saarbrücken, Urt. v. 15.12.2022 - 4 U 136/21 zum Überholen eines Radfahrers durch ein Kfz).
Mangels Anwendbarkeit des StVG und damit auch der vorstehend skizzierten BGH-Rechtsprechung hatte der Kläger im Streitfall an sich den Vollbeweis (§ 286 ZPO) zu führen, dass die Rechtsgutverletzung äquivalent und adäquat kausal auf das (lediglich) nachgewiesene zu nahe Vorbeifahren des Beklagten in einem gewissen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zurückzuführen war. Der vom Senat gewählte Weg der Begründung über einen Anscheinsbeweis für die Kausalität, welchen man verkürzt und pointiert mit „Der Skater fällt ja nicht einfach so um“ wiedergeben könnte, erscheint mit Blick auf die eher geringe Zahl derartiger Ereignisse zwar nicht zwingend, aber gut vertretbar.
Infolge der Anwendung eines Anscheinsbeweises legt es das OLG Hamm dann folgerichtig dem Beklagten auf, diesen zu erschüttern. Von Beklagtenseite war, was zwischen den Zeilen herausgelesen werden kann, die Einholung eines unfallanalytischen Gutachtens angeboten worden. Auch insofern wäre gewiss ein anderer Weg als der des Senats, welcher ein Gutachten teils mangels „Plausibilität“ des vom Beklagten beschriebenen Vorgangs – hier scheint der Senat in den Angaben des Beklagten einen Widerspruch erkannt zu haben –, teils mangels Kenntnis der notwendigen Anknüpfungsgrundlagen für ungeeignet zur weiteren Sachaufklärung bzw. Erschütterung des Anscheinsbeweises hält, denkbar gewesen. Dass nicht alle Anknüpfungstatsachen für eine unfallanalytische Begutachtung mit Sicherheit feststehen, dürfte schließlich eher die Regel als die Ausnahme sein. Unfallanalytische Sachverständige können jedoch bekanntermaßen aufbauend auf einer gewissen Tatsachengrundlage, die hier ohne Weiteres vorhanden gewesen wäre, auch alternative Szenarien „durchspielen“ und so die Angaben von Beteiligten einer Plausibilitätsprüfung unterziehen („Könnte es überhaupt so gewesen sein?“).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung liefert ausgehend von einer eher ungewöhnlichen, dann aber doch in bekannten rechtlichen Bahnen zu behandelnden Unfallkonstellation einen Beitrag zur Konkretisierung der Pflichten beim Überholen für nicht der Gefährdungshaftung unterliegende Verkehrsteilnehmer. Abzuwarten bleibt, ob sich andere Gerichte in ähnlich liegenden Sachverhalten der vom OLG Hamm bejahten Typizität einer Kausalität des Sturzes bei zu nahem Vorbeifahren anschließen werden. In Kombination mit der Verwerfung des Beweisangebotes auf Einholung eines unfallanalytischen Gutachtens entsteht so für den (mutmaßlichen) Schädiger bei „berührungslosen“ Unfällen eine durchaus schwierige Beweis- und Prozesssituation.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Neben dem Verstoß gegen § 5 Abs. 4 Satz 2 StVO legt der Senat dem Beklagten auch einen Verstoß gegen § 16 Abs. 1 Nr. 2 StVO zur Last. Dies ist zunächst insofern interessant, als der Beklagte nach der Begründung des Beschlusses ja mangels hinreichenden Platzes links neben dem Kläger überhaupt nicht zum Überholmanöver hätte ansetzen dürfen. Hätte er dieses unterlassen, wäre aber natürlich auch kein Warnzeichen abzugeben gewesen (allenfalls hätte der Beklagte gemäß § 5 Abs. 5 Satz 1 StVO auf ein beabsichtigtes Überholen aufmerksam machen dürfen). Der vom Oberlandesgericht angenommene Verstoß gegen § 16 Abs. 1 Nr. 2 StVO i.V.m. § 1 Abs. 2 StVO erscheint aber konsequent, da eine mögliche Pflicht zu Warnung beim zulässigen Überholen (vgl. zum Überholen von Fußgängern bzw. Skatern durch Radfahrer etwa OLG Düsseldorf, Urt. v. 12.07.2011 - I-1 U 242/10) bei einem von vornherein verkehrswidrigen und gefährlichen Überholmanöver erst recht gelten muss. Hinzuweisen ist insofern noch darauf, dass § 16 StVO nur regelt, wann es erlaubt ist, ein Schall- oder Leuchtzeichen zu geben. Eine Verpflichtung zur Abgabe kann sich, wie auch aus dem Beschluss hervorgeht, aber aus § 1 Abs. 2 StVO ergeben. Danach besteht eine solche Pflicht, wenn die Warnung erforderlich ist, um andere Verkehrsteilnehmer auf eine Gefahr hinzuweisen, der durch den Einsatz anderer zumutbarer Mittel nicht wirksam begegnet werden kann (OLG Köln, Urt. v. 01.08.1991 - 7 U 97/91).



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