(Mit-)Haftung von Kindern im StraßenverkehrLeitsatz Fährt ein 11-Jähriger mit seinem Fahrrad entgegen der Fahrtrichtung wider § 2 Abs. 5 StVO über einen Gehweg und entgegen § 10 Satz 1 Halbsatz 1 StVO (und § 2 Abs. 5 Satz 7 StVO), ohne eine Gefährdung des Querverkehrs auszuschließen (und abzusteigen), über eine Bordsteinabsenkung zum Queren auf die Fahrbahn einer Straße und kollidiert mit einem kreuzenden Kraftfahrzeug, tritt die Haftung der Haftungseinheit Kraftfahrzeug im Hinblick auf § 254 Abs. 1 BGB nicht vollständig zurück, sondern begründet nur eine Haftungsteilung, wenn - wie hier - zwar kein Verstoß gegen § 3 Abs. 1 Satz 2, Abs. 1 Satz 4, Abs. 2a StVO, dafür aber ein Verstoß des Kraftfahrzeugführers gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot nach § 1 Abs. 2 StVO feststeht. Orientierungssätze zur Anmerkung 1. Den Gehweg entgegen der Fahrtrichtung befahrender elfjähriger Radfahrer verstößt erheblich gegen die Verkehrsregeln, wenn er ohne abzusteigen unvorsichtig die Straße überquert. 2. Autofahrer müssen beim Linksabbiegen auch den Verkehr auf dem rechten Gehweg beachten. 3. Bei der Haftungsabwägung sind bei Kindern von knapp über 10 Jahren noch vorhandene typisch kindliche Verhaltensdefizite mindernd zu berücksichtigen. - A.
Problemstellung Unfälle von Kindern im Straßenverkehr sind eines der traurigsten Kapitel unseres Alltags. Im Jahre 2024 kamen dabei wieder ca. 25.800 Kinder unter 15 Jahren zu Schaden, am häufigsten als PKW-Insassen, Radfahrer oder Fußgänger (Statista, Verkehrsunfälle mit Kindern in Deutschland 2024, https://de.statista.com). Die meisten Fehler machen sie hierbei beim Überqueren der Fahrbahn bzw. der Nutzung der falschen Fahrbahn als Radfahrer. Getötet wurden im Jahre 2024 wieder 53 Kinder, was gegenüber den Vorjahren mit 44 und 51 eine leichte Erhöhung bedeutet. Die langfristige Entwicklung ist allerdings positiv, so kamen z.B. in den 90er Jahren noch rund 1.000 Kinder bei Verkehrsunfällen zu Tode. Hinter diesen „nackten Zahlen“ stehen speziell bei schweren Personenschäden tragische Schicksale, die für das Kind und seine Eltern oft die komplette Umstellung des Alltags bedeuten. Vor dem Hintergrund ist neben einer juristisch korrekten Bearbeitung ein besonders sensibler Umgang in der Kommunikation erforderlich. Dabei ist eine Unterstützung mit „Rat und Tat“ durch das von den meisten Versicherern angebotene private Reha-Management hilfreich. Unter juristischem Aspekt geht es bei Kinderunfällen oftmals um die Frage, inwieweit „unsere Kleinen“ als Täter oder Opfer für ihr Verhalten (mit)einstehen müssen. Damit hat sich auch wieder diese OLG-Entscheidung befasst.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Es klagt ein elfjähriger Junge nach einem Verkehrsunfall mit einem bei dem Beklagten versicherten PKW, bei dem er verletzt wurde. Hierzu kam, dass das Kind mit seinem Fahrrad den Gehweg entgegen der Fahrtrichtung befuhr und die Straße ohne abzusteigen mit einer Geschwindigkeit von ca. 14 km/h überquerte. Es kollidierte mit dem nach links abbiegenden PKW, der zuvor verkehrsbedingt angehalten hatte und dann mit 8-9 km/h wieder losgefahren war. Dessen Fahrer war dabei auf den von links kommenden Verkehr konzentriert und hatte den von dem Jungen befahrenen Gehweg auf der rechten Seite nicht im Blick. Das Kind macht unter Anrechnung eines eigenen Mitverschuldens von 1/3 materielle und immaterielle Ansprüche sowie einen „Feststeller“ für zukünftige Schäden geltend. Das LG Siegen mit Urteil vom 06.02.2024 (5 O 82/20 - nicht veröffentlicht) eine Haftung des PKW-Fahrers von 25% gesehen. Das OLG Hamm hat auf die Berufung des Klägers auf eine Haftungsquote von 50%-50% entschieden. Der Unfall habe sich beim Betrieb des beklagten PKWs im öffentlichen Straßenverkehr ereignet. Seine Haftung sei nicht aufgrund höherer Gewalt nach § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen, da die Kollision mit einem kreuzenden Fahrrad kein betriebsfremdes außergewöhnliches Ereignis sei (vgl. Laws/Lohmeyer/Vinke in: jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. § 7 StVG, Stand 02.08.2024, Rn. 267 ff.). Ein Anspruchsausschluss gemäß § 17 Abs. 3 StVG aufgrund eines unabwendbaren Ereignisses komme ebenfalls nicht in Betracht, da die Norm ein weiteres an dem Unfall beteiligtes Fahrzeug voraussetze (OLG Hamm, Urt. v. 03.03.2023 - 7 U 100/22 - NJW-RR 2023, 1008). Die Abwägung der Verursachungsbeiträge der Beteiligten nach § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB ergebe eine Haftungsquote von jeweils 50%. Der Mithaftung des Kindes stehe dabei nicht das Alter zum Unfallzeitpunkt entgegen, die gemäß § 828 Abs. 2 BGB ab der Vollendung des 10. Lebensjahres möglich sei (Wagner in: MünchKomm BGB, 9. Aufl. 2024, § 828 Rn. 9). Das Fehlen der für eine Haftung erforderlichen Einsichtsfähigkeit des Jungen nach § 828 Abs. 3 BGB sei weder vom Kläger vorgetragen noch für den Senat ersichtlich. Für eine (Mit-)Haftung des Kindes komme es maßgeblich darauf an, inwieweit sich sein Verhalten als Gefahrenmoment bei dem Unfall realisiert habe (BGH, Beschl. v. 30.10.2013 - XII ZB 317/13 - NJW 2014, 215). Bei seinem Vortrag lasse sich der Kläger ein Mitverschulden von 1/3 anrechnen, gehe also selbst davon aus, den Unfall mitverursacht zu haben. Auf der Grundlage habe das Kind einen Vorfahrtsverstoß nach § 10 Satz 1 StVO begangen, ohne dass es auf die Grundsätze des Anscheinsbeweises ankomme. Hiernach müssen sich von anderen Straßenteilen bzw. abgesenkten Bordsteinen auf die Fahrbahn Einfahrende derart verhalten, dass andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet werden. Vorliegend habe sich der Junge nicht entsprechend verhalten, er sei in der Situation dem Beklagten gegenüber nicht bevorrechtigt gewesen. Das Vorfahrtsrecht gelte zwar auch für Radwege, die entlang der Straße führen und sich vom Erscheinungsbild als Teil der Straße darstellen (OLG Köln, Beschl. v. 18.05.2017 - 19 U 31/17 - RuS 2018, 98; OLG Frankfurt, Urt. v. 23.01.2004 - 24 U 118/03 - VersR 2005, 523), hier habe das Kind jedoch keinen solchen, sondern einen nicht für Radfahrer freigegebenen Gehweg befahren. Duch das unvorsichtige Überqueren der Fahrbahn habe der Junge das Vorfahrtsrecht des schon in unmittelbarer Nähe befindlichen PKW missachtet, was einen Verstoß gegen § 10 Satz 1 StVO bedeute. In der Beweisaufnahme nicht bestätigt habe sich insoweit seine Einlassung, der Beklagte habe ihm durch ein Kopfnicken klar signalisiert, fahren zu können. Zudem habe der elfjährige Junge gegen § 2 Abs. 5 StVO verstoßen, da das Fahren auf Gehwegen nur bis zur Vollendung des 10. Lebensjahres zulässig sei. Schließlich hätte er vor dem Queren der Straße nach § 2 Abs. 5 Satz 7 StVO vom Rad absteigen müssen, was er nicht getan habe. Der Autofahrer habe umgekehrt gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot nach § 1 Abs. 2 StVO verstoßen, indem er nicht hinreichend auf das sich von rechts nähernde Kind geachtet habe. Als Abbiegender habe es nicht gereicht, auf den von links kommenden Verkehr zu achten, es wäre auch erforderlich gewesen, den Gehweg auf der rechten Seite in den Blick zu nehmen (BGH, Urt. v. 04.04.2023 - VI ZR 11/21 - VersR 2024, 326; BGH, Urt. v. 24.02.1987 - VI ZR 19/86 - VersR 1989, 296). Bei Beachtung seiner diesbezüglichen Sorgfaltspflicht hätte der Beklagte den Radfahrer rechtzeitig sehen und somit den Unfall vermeiden können. In der Situation könne er sich angesichts seines eigenen Verkehrsverstoßes und des ersichtlich verkehrswidrigen Verhaltens des sich mit 14 km/h nähernden Kindes nicht auf ein Vertrauen in ein regelgerechtes Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer berufen (Herbers/Lempp in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 3. Aufl. 2021, § 1 Rn. 15; BGH, Urt. v. 04.04.2023 - VI ZR 11/21 - VersR 2024, 326). Der Autofahrer habe hingegen nicht gegen § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO verstoßen, da er mit 8-9 km/h trotz einer Sichtbehinderung durch eine Hecke und einen Zaun nicht zu schnell gefahren sei. Gleiches gelte im Hinblick auf § 3 Abs. 2a StVO, der Kraftfahrern bei Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen eine erhöhte Sorgfalt auferlege. Sie greifen allerdings nur bei Anhaltspunkten für deren konkrete Gefährdung (Burmann in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl. 2024, § 3 Rn. 52). Solche haben hier nicht vorgelegen, der Vortrag des Klägers, er sei auf dem Weg zur Schule gewesen, reiche hierfür nicht aus, zumal der Beklagte ohnehin nur mit Schrittgeschwindigkeit gefahren sei. Bei Abwägung der Verursachungsbeiträge der Beteiligten ergebe sich eine Haftung von jeweils 50%. Der Vorfahrtsverstoß des Jungen sei schwerwiegend, wobei erschwerend hinzukomme, dass er nicht auf dem Gehweg haben fahren dürfen und vor dem Überqueren der Straße nicht vom Fahrrad abgestiegen sei. Mindernd sei aber sein Alter von nur 11 Jahren zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des BGH sei ein Verstoß von Kindern des Alters prinzipiell weniger hoch zu bewerten als bei Erwachsenen, so dass ihnen subjektiv nur grob verkehrswidriges Verhalten vorgeworfen werden könne (z.B. BGH, Urt. v. 18.11.2003 - VI ZR 31/02 - VersR 2004, 392). Bei ihnen seien im Straßenverkehr noch typisch kindliche Defizite vorhanden, so dass sie trotz der Vermittlung der Grundregeln noch nicht alle dortigen Risiken beherrschen. Sie haben sich hier realisiert, da der Junge meinte, die schmale Lücke zwischen zwei PKW noch zum zügigen Durchfahren nutzen zu können.
- C.
Kontext der Entscheidung Die vorliegende Haftungsbeurteilung des OLG Hamm ist mit 50%-50% vom Ergebnis und ihrer Begründung sachgerecht (zu der Thematik z.B. Lang, Sonderheft zu Heft 4, 63; Lang, jurisPR-VerkR 19/2024 Anm. 1; Singer in: FS für J. Prölss, 2009, S. 191; Dörr, MDR 2012, 503; Nugel, jurisPR-VerkR 2/2025 Anm. 2). Unzweifelhaft hat der elfjährige Junge in mehrfacher Hinsicht gravierend gegen Regeln des Straßenverkehrs verstoßen. So hat er dem PKW des Beklagten durch sein unvorsichtiges Überqueren der Straße mit in der Situation überhöhter Geschwindigkeit i.S.d. § 10 Satz 1 StVO die Vorfahrt genommen. Dabei befuhr er den Gehweg, was nach § 2 Abs. 5 StVO nur Kindern bis zur Vollendung des 10. Lebensjahres gestattet ist (Figgener in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl. 2024, § 2 StVO Rn. 62 f.). Zudem ist er beim Queren der Fahrbahn nicht wie vorgeschrieben vom Rad abgestiegen (OLG Schleswig, Beschl. v. 02.10.2024 - 7 U 12/24; OLG Celle, Urt. v. 11.10.2023 - 14 U 157/22 - RuS 2024, 132), was im alltäglichen Leben ohnehin häufig übersehen und missachtet wird. Auf der anderen Seite hat sich der beklagte Autofahrer auch nach seiner eigenen Schilderung nicht korrekt verhalten, indem er nicht hinreichend auf mögliche auf dem Gehweg von rechts kommende andere Verkehrsteilnehmer, wie hier das Kind, geachtet hat. Sein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO entfällt dabei nicht durch das verkehrswidrige Verhalten des Klägers. Die Schwere der Verursachungsbeiträge der Beteiligten hat das OLG Hamm sachgerecht mit 50%-50% gewichtet. Die Verstöße des Jungen sind zwar so erheblich, dass sie bei Erwachsenen zu einer überwiegenden Haftung geführt hätten (z.B. OLG Hamm, Beschl. v. 19.08.2024 - 7 U 58/23 - VersR 2024, 1624; OLG Hamm, Beschl. v. 08.03.2022 - 9 U 157/21 - NJW-RR 2022, 1041). Vorliegend ist jedoch mindernd sein Alter von 11 Jahren zu berücksichtigen, womit er gerade erst die Haftungsgrenze des § 828 Abs. 2 BGB überschritten hat (ebenso z.B. OLG Celle, Urt. v. 11.10.2023 - 14 U 157/22 - RuS 2024, 132). In dem Alter ist wissenschaftlich erwiesen, dass bei Kindern im motorisierten Straßenverkehr regelmäßig noch, sich erst sukzessive mit zunehmendem Alter und Reise abbauende, kindliche Verhaltensdefizite vorhanden sind, so speziell beim Einschätzen von Geschwindigkeiten und Entfernungen (vgl. Limbourg, 39. VGT Goslar 2001, S. 39; Neuhaus, 51. VGT Goslar 2013, S. 72). Vor dem Hintergrund hat der BGH richtigerweise betont, dass das Verhalten von Kindern dieses Alters grundsätzlich weniger schwer zu bewerten ist als das von Erwachsenen (BGH, Beschl. v. 09.03.2010 - VI ZR 296/09; BGH, Beschl. v. 30.05.2006 - VI ZR 184/05). Es überzeugt, dass das OLG Hamm hier die Verwirklichung von solchen kindlichen Defiziten in der Situation bejaht hat, da der Junge leichtsinnig und übermütig meinte, die Straße mit hoher Geschwindigkeit „gerade noch“ zwischen zwei Autos überqueren zu können. Deswegen ist die vom OLG Hamm ausgeurteilte Mithaftung des Kindes von „nur“ 50% ebenso sachgerecht wie die Bewertung des Verstoßes des Autofahrers. In der Entscheidung fällt auf, dass das OLG Hamm hier bei der Beurteilung der Einsichtsfähigkeit des Kindes kein Sachverständigengutachten eingeholt hat. Die Ursache liegt jedoch darin, dass die beweispflichtige Klägerseite hierzu nichts vorgetragen hat, also auch nicht die Einholung eines solchen beantragt hat. Grundsätzlich sollten die Gerichte allerdings zu der Frage auf die Expertise von geschulten Sachverständigen zurückgreifen (grundlegend BGH, Urt. v. 21.05.1963 - VI ZR 254/62 - BGHZ 38, 281; BGH, Urt. v. 23.10.1952 - III ZR 273/51). Meines Erachtens ist es wenig überzeugend, dass in einigen Entscheidungen hierzu auf Basis von eigener Sachkunde des Gerichtes entschieden wurde, die bei der komplexen, für jedes Kind individuell zu beurteilenden Thematik, nicht vorhanden sein kann (Lang, Sonderheft zu Heft 4, 63; Lang, jurisPR-VerkR 25/2010 Anm.1). Unter dogmatischem Aspekt diskutabel ist lediglich die vom OLG Hamm mit einer festen Quote von 50% festgelegte Haftung hinsichtlich der immateriellen Ansprüche des Kindes. Der BGH lehnt ein solches Vorgehen grundsätzlich ab und fordert eine ganzheitliche Bemessung unter Einbeziehung und Gewichtung aller relevanter Faktoren (grundlegend BGH, Beschl. v. 06.07.1955 - GSZ 1/55 - NJW 1955, 1675; BGH, Beschl. v. 16.09.2016 - VGS 1/16 - BGHZ 212, 48). Gleichwohl wird dazu in der Praxis einschließlich vieler Gerichte, wie hier, aus Gründen der Praktikabilität mit festen Quoten gearbeitet (z.B. OLG München, Urt. v. 13.01.1999 - 7 U 4576/98 - VersR 2000, 900; OLG Bremen, Urt. v. 11.02.1997 - 3 U 69/96 - VersR 1997, 765), wobei sachgerechte Ergebnisse erzielt werden (Küppersbusch/Höher, Ersatzansprüche bei Personenschaden, 14. Aufl. 2024, Rn. 283 f.). Eine rein pauschale Bewertung der immateriellen Ansprüche nach dem Modell einer „taggenauen“ Betrachtung hat der BGH mit deutlichen Worten abgelehnt (BGH, Urt. v. 15.02.2022 - VI ZR 937/20 - VersR 2022, 712; BGH, Urt. v. 22.03.2022 - VI ZR 16/21 - VersR 2022, 819). Das OLG-Urteil steht im Einklang mit der aktuellen Rechtsprechung der Instanzgerichte zu dieser Thematik. Sie trägt bei der Haftungsbeurteilung insbesondere den noch vorhandenen Defiziten von Kindern des Alters durchweg angemessen Rechnung und bejaht deren volle Haftung grundsätzlich nur bei schweren Verstößen (OLG Hamm, Urt. v. 25.06.2024 - 7 U 142/23; OLG Brandenburg, Beschl. v. 12.07.2022 - 12 U 203/21 - NZV 2023, 227; OLG Celle, Beschl. v. 15.10.2024 - 14 U 143/24; OLG Hamm, Beschl. v. 27.02.2024 - 7 U 120/22 - NJW-RR 2024, 894; OLG Zweibrücken, Urt. v. 13.11.2019 - 1 U 153/14) Hierzu einige Beispiele: - Das OLG Celle hat mit Urteil vom 19.05.2021 (14 U 129/20 - NJW 2021, 2124) der Klage eines elfjährigen Mädchens in vollem Umfang stattgegeben, das von einem PKW erfasst wurde, als es auf dem Schulweg um 8.00 Uhr bei Dunkelheit die Straße überquerte. Es war dabei das letzte Kind einer Kindergruppe, wovon eines reflektierende Kleidung trug. Der ortskundige, mit 55 km/h statt grundsätzlich erlaubter 50 km/h fahrende Autofahrer hat aus zutreffender Sicht des Senates gegen § 3 Abs. 2a StVO verstoßen, da die Kinder schon aus 40 Metern erkennbar waren und um die Uhrzeit mit Schulkindern zu rechnen war. Mithin hätte er in der Situation deutlich langsamer fahren müssen. Ein Mitverschulden des Kindes ist trotz seines erheblichen Verstoßes nicht gegeben, in dem gruppendynamischen Bestreben, an den anderen Kindern „dranbleiben“ zu wollen, haben sich in dem Alter noch vorhandene kindliche Defizite realisiert. - Sachgerecht ist ebenfalls die Entscheidung des OLG Hamm vom 27.02.2024 (I-7 U 120/22 - NJW-RR 2024, 894) mit der 70%igen Haftung eines PKW-Fahrers, der einen zwölfjährigen Jungen um 15.00 Uhr beim Überqueren der Straße verletzte. Dieser war zuvor an einer Haltestelle mit 20 bis 30 anderen Kindern aus einem Bus ausgestiegen, was der aus der Gegenrichtung kommende PKW-Fahrer erkennen konnte. In der Situation waren seine 15-20 km/h zu schnell, auch wenn der Bus keine Warnblinkanlage eingeschaltet hatte, woraus sich ein Verstoß gegen § 3 Abs. 2a StVO ergibt. Der Junge haftet allerdings in einem (nur geringen) Maße mit, da mit 12 Jahren die Kennntnis zumindest der wichtigsten Verkehrsregeln, u.a. aufgrund der Verkehrserziehung in der Schule, vorausgesetzt werden kann. - Das LG Nürnberg-Fürth hat am 20.07.2023 (8 O 7410/21) einem gerade 10 Jahre alten Mädchen 75% seiner geltend gemachten Ansprüche zugesprochen, nachdem es die Straße ohne Beachtung des Verkehrs überquerte und dabei von einem PKW erfasst und schwer verletzt wurde. Dessen Fahrerin haftet dabei zu Recht weit überwiegend, da sie auf das bereits 25 Meter vor der Kollision erkennbare Kind zu spät reagierte und außerdem zu schnell fuhr. Die Mithaftung des Mädchens fällt trotz des schweren Verstoßes gegen § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO nur gering aus, da in dem Alter Verstöße grundsätzlich niedriger zu bewerten sind als bei Erwachsenen. Nicht im Widerspruch hierzu steht, dass die Rechtsprechung bei schweren Verstößen von älteren Kindern angesichts ihrer altersbedingt schon höheren Reife und Einsichtsfähigkeit i.S.d. § 828 Abs.3 BGB im konkreten Einzelfall auch auf deren volle Haftung entscheidet (z.B. OLG Schleswig, Beschl. v. 29.05.2024 - 7 U 38/24; OLG Celle, Urt. v. 11.10.2023 - 14 U 157/22 - RuS 2024, 132; OLG München, Urt. v. 15.11.2020 - 10 U 2847/20; OLG Celle, Urt. v. 19.02.2020 - 14 U 69/19 - NZV 2020, 360). Als Beispiel nennen will ich dabei die Entscheidung des OLG Brandenburg vom 03.01.2019 (12 U 133/18). Darin wurde richtigerweise auf eine volle Haftung eines 15-jährigen Mädchens entschieden, das unvorsichtig plötzlich die Straße betrat, wobei es vom Handy abgelenkt war. Damit musste der ordnungsgemäß fahrende PKW-Fahrer nicht rechnen, so dass auch die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs hinter dem Verstoß der Klägerin zurücktrat.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Das Urteil ist ein weiterer Mosaikstein zu der umfangreichen, im Wesentlichen auf einer Linie liegenden Rechtsprechung zur (Mit-)Haftung von Kindern im motorisierten Straßenverkehr. Ihre wesentlichen Grundsätze lauten: - Bei Kindern knapp über der Haftungsgrenze des § 828 Abs. 2 BGB sind bei Beurteilung der Haftung deren noch vorhandene kindlichen Defizite mindernd zu berücksichtigen. - Fahrzeugführer können sich bei Kindern von knapp über 10 Jahren nicht auf Einhaltung von Verkehrsregeln verlassen, sind speziell in Fällen des § 3 Abs. 2a StVO zu besonderer Rücksichtnahme verpflichtet. - Verkehrsverstöße von Kindern des Alters sind grundsätzlich niedriger zu bewerten als von Erwachsenen, so dass ihre volle Haftung nur bei schweren Verstößen eingreift. - Mit zunehmendem Alter und sukzessive höhere Reife kommt bei essenziellen Verstößen eine 100%-Haftung von Kindern in Betracht. - Die Einsichtsfähigkeit von Kindern nach § 828 Abs. 3 BGB ist gerichtlich durch Einholung von Sachverständigengutachten festzustellen. - Bei der Regulierung speziell von Kinderunfällen ist die praktische Unterstützung durch ein privates Reha-Management der Haftpflichtversicherer hilfreich (dazu z.B. Lang, VersR 2022, 1397; Köck, ZfSch 2024, 601).
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