juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BVerfG 1. Senat 2. Kammer, Beschluss vom 19.12.2024 - 1 BvR 1425/24
Autor:Nadim El Sarise, RiOLG
Erscheinungsdatum:28.05.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 23 BVerfGG, § 92 BVerfGG, Art 1 GG, Art 2 GG, Art 103 GG, Art 20 GG, § 53 StGB, § 55 StGB, § 460 StPO, § 54 StGB, § 890 ZPO
Fundstelle:jurisPR-WettbR 5/2025 Anm. 1
Herausgeber:Jörn Feddersen, RiBGH
Zitiervorschlag:El Sarise, jurisPR-WettbR 5/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Doppelahndungsverbot und Schuldgrundsatz bei der Zwangsvollstreckung aus Unterlassungstiteln gemäß § 890 ZPO



Orientierungssätze

1a. Art. 20 Abs. 3 GG verbietet u.a. die mehrfache Ahndung desselben Vorgangs mit der gleichen oder einer weitgehend gleichartigen Maßnahme (vgl. BVerfG, 26.05.1970 - 1 BvR 668/68 - BVerfGE 28, 264, 277). Die wiederholte Festsetzung eines Ordnungsgeldes verstößt jedoch nur dann gegen die in dem Rechtsstaatsprinzip enthaltene Idee der Gerechtigkeit und ist als evident ungerecht anzusehen, wenn der Gegenstand einer späteren Festsetzung mit dem einer früheren in allen Einzelheiten identisch ist. (Rn. 22).
1b. Entscheidend für die Beurteilung, ob im Rahmen der Ordnungsgeldfestsetzung ein Verstoß gegen das Doppelahndungsverbot vorliegt, sind zudem Anlass, Ziel und Zweck der beanstandeten Maßnahme (vgl. BVerfG, 03.08.1989 - 1 BvR 1194/88 Rn. 11 unter Verweis auf BVerfGE 28, 264, 278).
2. § 890 Abs. 1 ZPO dient der Ahndung begangenen Unrechts. Es gelten daher ungeachtet des zwangsvollstreckungsrechtlichen Einschlags strafrechtliche Grundsätze. Insbesondere setzt § 890 Abs. 1 ZPO Schuld voraus (vgl. BVerfG, 25.10.1966 - 2 BvR 506/63 - BVerfGE 20, 323, 332; BVerfG, 04.12.2006 - 1 BvR 1200/04 Rn. 11). Der Schuldgrundsatz setzt als Voraussetzung der Verhängung einer Strafe die individuelle Vorwerfbarkeit voraus (vgl. BVerfG, 19.03.2013 - 2 BvR 2628/10 - BVerfGE 133, 168, 198 Rn. 54).



A.
Problemstellung
Die Zwangsvollstreckung wegen Verstößen gegen Unterlassungstitel gemäß § 890 ZPO unterliegt aus verfassungsrechtlicher Sicht dem Doppelahnungsverbot und dem Schuldgrundsatz. Ob ein Verstoß gegen das Doppelahndungsverbot vorliegt, hängt maßgeblich davon ab, ob die sanktionierten Handlungen nur Teile einer einzigen natürlichen Handlungseinheit sind. Hinsichtlich der Einhaltung des Schuldgrundsatzes kann sich die Frage stellen, inwieweit der Schuldner für Handlungen Dritter haftet.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Beschwerdeführer ist Rapper. Ihm wurde im Wege einer einstweiligen Verfügung verboten, drei näher bezeichnete Liedzeilen eines „Diss-Tracks“ über einen anderen Rapper, dessen Ehefrau sowie deren Kinder wörtlich oder sinngemäß zu verbreiten oder verbreiten zu lassen. Aufgrund von Zuwiderhandlungen gegen die einstweilige Verfügung erließ das LG zunächst drei Ordnungsmittelbeschlüsse. Mit einem vierten Beschluss vom 15.06.2023 verhängte es Ordnungsmittel, weil der Beschwerdeführer am 17.11.2022 über seinen Instagram-Account die Story eines anderen Instagram-Nutzers gepostet hatte, in der der vom Unterlassungstenor umfasste Text eingeblendet war.
Am 06.06.2023 haben die Unterlassungsgläubiger die Festsetzung eines fünften Ordnungsmittels beantragt. Dem lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer bei einem Auftritt am 02.06.2023 eine der untersagten Liedzeilen sang, dann aber nicht weitersang, sondern das Mikrofon in Richtung des Publikums hielt, woraufhin dieses die darauffolgende, ebenfalls untersagte Liedzeile sang. Anschließend streckte der Beschwerdeführer seine Arme in die Höhe und wippte mit seinen Armen, woraufhin das Publikum die nächsten vier Zeilen des Musikstücks sang, von denen eine ebenfalls untersagt war. Anlässlich eines Auftritts am 03.06.2023 sang der Beschwerdeführer abermals eine der untersagten Liedzeilen und hielt anschließend das Mikrofon in Richtung des Publikums, das daraufhin die darauffolgende untersagte Liedzeile sang. Im Anschluss daran rappte der Beschwerdeführer eine nicht untersagte Liedzeile und hielt danach das Mikrofon in die Richtung des Publikums und bewegte seine Arme rhythmisch vor und zurück, woraufhin die Zuschauer die dritte untersagte Liedzeile sangen. Am 04.06.2023 verbreitete der Beschwerdeführer einen Videomitschnitt seines Konzerts vom 03.06.2023 über seinen Twitter-Account. In diesem Video ist zu sehen, wie der Beschwerdeführer Teile des Titels und das Publikum zwei der von dem Unterlassungsgebot betroffenen Zeilen singt.
Das LG hat daraufhin mit Beschluss vom 21.02.2024 zum fünften Mal Ordnungsmittel gegen den Beschwerdeführer verhängt, weil er mehrfach gegen das Unterlassungsgebot verstoßen habe, indem er das Publikum zum Singen der zu unterlassenden Textzeilen aufgefordert und den Videomitschnitt des Konzerts über seinen Twitter-Account veröffentlicht habe. Er könne sich auch nicht darauf berufen, dass es sich um eine Handlung des Publikums handle, da er das Publikum durch entsprechende Armbewegungen und das Halten des Mikrofons in die Menge zum Singen der verbotenen Liedzeilen ermuntert habe.
Die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers gegen diesen Beschluss hat das OLG zurückgewiesen. Es sei unerheblich, dass der fünfte Ordnungsmittelantrag zu einem Zeitpunkt gestellt worden sei, als über den vierten Ordnungsmittelantrag noch nicht rechtskräftig entschieden worden sei. Für mehrere zusammenhängende Zuwiderhandlungen könne zwar ein Gesamtordnungsmittel verhängt werden. Daraus folge indes nicht, dass der Beschwerdeführer ein Recht darauf habe, dass in Fällen, in denen er weitere Zuwiderhandlungen gegen ein Unterlassungsgebot begehe, kein neues Ordnungsmittelverfahren betrieben und lediglich ein bereits laufendes Verfahren erweitert werde. Hier sei auch zu berücksichtigen, dass die betroffenen Zuwiderhandlungen nicht zusammenhingen. Indem der Beschwerdeführer eine verbotene Textzeile selbst gesungen und das Publikum aufgefordert habe, statt seiner selbst die in dem Lied nachfolgenden Zeilen zu singen, sowie durch die Veröffentlichung des Konzertmitschnittes auf Twitter habe der Beschwerdeführer jeweils gegen die Unterlassungspflicht verstoßen. Ihm sei im Unterlassungstitel ausdrücklich nicht nur untersagt worden, die verfahrensgegenständlichen Äußerungen zu verbreiten, sondern ebenso, diese verbreiten zu lassen. Für einen Verstoß genüge die Zuwiderhandlung gegen die Unterlassungspflicht durch Dritte, wenn sie dem Schuldner zuzurechnen sei und ihn ein Verschulden treffe. Dabei könne ein Verschulden auch darin gesehen werden, dass im Hinblick auf Dritte zumutbare Einwirkungen unterblieben seien. Ein Schuldner hafte zudem für das Tun oder Unterlassen Dritter, soweit hierfür sein eigenes Verhalten ursächlich sei. Der Beschwerdeführer habe das Publikum mit eindeutigen Gesten dazu angehalten, die verbotenen Textzeilen zu singen. Er habe deshalb nicht nur die ihm zur Unterbindung von Verstößen gegen das Unterlassungsgebot möglichen und zumutbaren Einwirkungen auf das Publikum unterlassen, sondern es aktiv und absichtlich angestiftet, die verbotenen Liedzeilen zu singen. Ihm werde daher kein Verhalten Dritter zugerechnet, sondern durch seine eigenen aktiven „Anstiftungshandlungen“ habe er selbst kausal und schuldhaft einen Verstoß gegen die Unterlassungspflicht herbeigeführt.
Das BVerfG hat die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers nicht zur Entscheidung angenommen. Sie sei unzulässig, da sie nicht den aus den §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG folgenden Darlegungsanforderungen genüge.
Dem Beschwerdeführer gelinge es nicht, die Möglichkeit einer Verletzung des Doppelahndungsverbots gemäß Art. 20 Abs. 3 GG substanziiert darzulegen. Die wiederholte Festsetzung eines Ordnungsgeldes verstoße nur dann gegen die in dem Rechtsstaatsprinzip enthaltene Idee der Gerechtigkeit und sei als evident ungerecht anzusehen, wenn der Gegenstand einer späteren Festsetzung mit dem einer früheren in allen Einzelheiten identisch sei. Entscheidend für die Beurteilung, ob im Rahmen der Ordnungsgeldfestsetzung ein Verstoß gegen das Doppelahndungsverbot vorliege, seien zudem Anlass, Ziel und Zweck der beanstandeten Maßnahme. Die Handlungen vom 02. bis 04.06.2023 stellten nach der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Wertung des OLG einen neuen, von dem vierten Ordnungsmittelverfahren zu unterscheidenden Sachverhalt dar. Auch soweit der Beschwerdeführer eine Divergenz zwischen der angegriffenen Entscheidung des OLG und der Rechtsprechung des OLG Frankfurt (Beschl. v. 14.12.2018 - 6 W 98/18 Rn. 3) sowie des BGH (Beschl. v. 17.12.2020 - I ZB 99/19 Rn. 21 - GRUR 2021, 767) geltend mache, lege er nicht hinreichend dar, inwiefern dies zu einer Verletzung des Doppelahndungsverbots führen könnte. Sowohl der BGH als auch das OLG Frankfurt würden in ihren Entscheidungen die Möglichkeit der Erweiterung eines laufenden Ordnungsmittelverfahrens annehmen, aber nicht den Schluss ziehen, dass es stets zu einer Erweiterung anstelle der Einleitung eines neuen Verfahrens kommen müsse.
Der Beschwerdeführer habe auch die Möglichkeit eines Verstoßes gegen den Schuldgrundsatz aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG nicht hinreichend dargelegt. § 890 Abs. 1 ZPO diene der Ahndung begangenen Unrechts. Es würden daher ungeachtet des zwangsvollstreckungsrechtlichen Einschlags strafrechtliche Grundsätze gelten, insbesondere setze § 890 Abs. 1 ZPO Schuld, also individuelle Vorwerfbarkeit voraus. Soweit der Beschwerdeführer vortrage, ein schuldhaftes Handeln sei bei den festgestellten Zuwiderhandlungen fernliegend, da der Verstoß vor Erlass des vierten Ordnungsmittelbeschlusses erfolgt sei, sei bereits nicht erkennbar, inwiefern erst der Erlass des vierten Ordnungsmittelbeschlusses ein schuldhaftes Handeln hätte ermöglichen sollen. Auch soweit der Beschwerdeführer vortrage, das OLG hätte sich nicht mit dem Umstand auseinandergesetzt, dass er gerade nicht die verbotenen Zeilen gesungen habe, sei die Möglichkeit einer Verletzung des Schuldgrundsatzes nicht hinreichend dargelegt. Denn eine solche Auseinandersetzung habe das OLG vorgenommen, indem es berücksichtigt habe, dass der Beschwerdeführer das Publikum durch bestimmte Gesten zum Singen aufgefordert und anschließend einen Videomitschnitt des Konzerts auf Twitter verbreitet habe. Im Übrigen habe der Beschwerdeführer am 02. und 03.06.2023 auch jeweils selbst eine der verbotenen Liedzeilen gesungen.


C.
Kontext der Entscheidung
I. Im Rahmen der Zwangsvollstreckung nach § 890 ZPO ist nicht das in Art. 103 Abs. 3 GG vorgesehene Doppelbestrafungsverbot anzuwenden, weil es bei der Verhängung von Ordnungsmitteln nicht um die Bestrafung derselben Tat „aufgrund der allgemeinen Strafgesetze“, das heißt der Kriminalstrafgesetze, geht. Bei der Festsetzung von Ordnungsmitteln, die sich von der strafrechtlichen Ahndung dadurch unterscheidet, dass sie auch Zwangsmittel ist und zur Sicherung der Durchsetzung des titulierten Anspruchs wiederholt vorgenommen werden kann, kommt stattdessen das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abzuleitende außerstrafrechtliche Doppelahndungsverbot zum Tragen (BGH, Beschl. v. 21.04.2022 - I ZB 56/21 Rn. 16 - GRUR 2022, 1379). Wie das BVerfG in der vorliegenden Entscheidung bestätigt, ist nach dem verfassungsrechtlichen Maßstab entscheidend, ob die wiederholte Festsetzung eines Ordnungsmittels als evident ungerecht anzusehen ist, weil der Gegenstand einer späteren Festsetzung mit dem einer früheren nach Anlass, Ziel und Zweck der beanstandeten Maßnahme in allen Einzelheiten identisch ist (BVerfG, Beschl. v. 03.08.1989 - 1 BvR 1194/88 Rn. 11; BGH, Beschl. v. 21.04.2022 - I ZB 56/21 Rn. 16 - GRUR 2022, 1379).
Nach vollstreckungsrechtlichen Grundsätzen ist insoweit entscheidend, ob den Ordnungsmittelverfahren unterschiedliche Handlungen zugrunde liegen. Einzelverstöße, die sich unter dem Gesichtspunkt einer natürlichen Handlungseinheit als Teilakte einer einheitlichen Zuwiderhandlung darstellen, dürfen nicht separat mit Ordnungsmitteln belegt werden, wenn diese Zuwiderhandlung bereits Gegenstand einer vorangegangenen Ordnungsmittelfestsetzung war (vgl. Nachweise bei BGH, Beschl. v. 21.04.2022 - I ZB 56/21 Rn. 32 - GRUR 2022, 1379). Unter einer natürlichen Handlungseinheit sind Verhaltensweisen zu verstehen, die aufgrund ihres räumlich-zeitlichen Zusammenhangs so eng miteinander verbunden sind, dass sie bei natürlicher Betrachtungsweise als ein einheitliches, zusammengehörendes Tun erscheinen. Kann bei natürlicher Betrachtungsweise angenommen werden, dass der Schuldner jeweils einen neuen Entschluss zum Verstoß gegen eine titulierte Unterlassungsverpflichtung gefasst oder einen bereits getroffenen Entschluss bewusst bekräftigt hat, spricht dies gegen das Vorliegen einer natürlichen Handlungseinheit und für die Annahme von mehreren Zuwiderhandlungen (BGH, Beschl. v. 21.04.2022 - I ZB 56/21 Rn. 33 - GRUR 2022, 1379). Es entspricht insbesondere der ständigen Rechtsprechung, dass im Fall der durchgehenden Verletzung eines Unterlassungstitels mehrere Ordnungsmittel verhängt werden können, wenn ein Ereignis dazwischentritt, das zu einer zeitlichen Zäsur führt, beispielsweise die Zustellung eines Ordnungsmittelantrags (vgl. BGH, Beschl. v. 17.12.2020 - I ZB 99/19 Rn. 29 - GRUR 2021, 767; El Sarise, jurisPR-WettbR 10/2022 Anm. 2 unter C. II.). Nach diesen Grundsätzen können der Instagram-Post des Beschwerdeführers vom 17.11.2022, der Gegenstand des vierten Ordnungsmittelantrags war, und die Handlungen vom 02. bis 04.06.2023, die Gegenstand des fünften Ordnungsmittelantrags waren, nicht zu einer natürlichen Handlungseinheit verbunden werden. Es spricht daher nichts dagegen, diese Zuwiderhandlungen jeweils mit Ordnungsmitteln zu ahnden.
II. Der Beschwerdeführer hat darüber hinaus die Frage aufgeworfen, ob die beiden Ordnungsmittelanträge prozessual in einem Verfahren hätten zusammengefasst werden müssen. Die Möglichkeit der Erweiterung eines laufenden Ordnungsmittelverfahrens wird vom OLG Frankfurt in einer Entscheidung über eine Beschwerde gegen die Festsetzung des Streitwerts für ein Ordnungsmittelverfahren angesprochen (OLG Frankfurt, Beschl. v. 14.12.2018 - 6 W 98/18 Rn. 3). In der vom BVerfG darüber hinaus zitierten Entscheidung BGH, Beschl. v. 17.12.2020 - I ZB 99/19 Rn. 21 - GRUR 2021, 767 finden sich dazu allerdings keine ausdrücklichen Ausführungen.
In der Sache gilt, dass aufgrund des Doppelahndungsverbots dann mehrere Ordnungsmittelanträge in einem Verfahren zusammengefasst werden müssen, wenn sie tatsächlich nur Teile einer einheitlichen Handlung betreffen (vgl.o.). Wenn sie aber verschiedene Handlungen betreffen, macht es für die Höhe der Ordnungsmittel keinen Unterschied, ob die Ordnungsmittelanträge in einem oder mehreren Verfahren beschieden werden. Es ist in jedem Fall für jede Zuwiderhandlung ein Ordnungsmittel festzusetzen und die einzelnen Ordnungsmittel sind sodann schlicht zu addieren. Denn nach zutreffender herrschender Meinung erfolgt im Rahmen des § 890 ZPO keine – für den Schuldner günstige – Gesamtstrafenbildung entsprechend § 54 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 StGB. Es ist also nicht lediglich das höchste verwirkte Ordnungsmittel zu erhöhen, ohne dass das Gesamtordnungsmittel die Summe der Einzelordnungsmittel erreichen dürfte. Die Vorschriften der §§ 53 ff. StGB zur Gesamtstrafenbildung sind im Ordnungsmittelverfahren insgesamt nicht entsprechend anwendbar (OLG Köln, Beschl. v. 10.05.2006 - 6 W 52/06 Rn. 16 f. - GRUR-RR 2007, 31; OLG Stuttgart, Beschl. v. 19.09.2019 - 2 W 33/19 Rn. 45; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.08.2021 - 2 W 7/21 Rn. 37; Köhler/Feddersen in: Köhler/Feddersen, UWG, 43. Aufl. 2025, § 12 Rn. 5.12a; Spoenle in: jurisPK-UWG, 5. Aufl. Stand: 06.01.2025, § 12 Rn. 170; Lackmann in: Musielak/Voit, ZPO, 22. Aufl. 2025, § 890 Rn. 13; Schmidt in: Anders/Gehle, ZPO, 83. Aufl. 2025, § 890 Rn. 23; Stürner in: BeckOK ZPO, 56. Edition, Stand: 01.03.2025, § 890 Rn. 26; Haft in: Cepl/Voß, Prozesskommentar Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, 3. Aufl. 2022, § 890 ZPO Rn. 60; Schuschke, WRP 2000, 1008, 1013; Hofmann, NJW 2019, 2126, 2129 f.; Cirullies/Cirullies, FamRB 2021, 152, 153; a.A. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 21.08.2020 - 16 WF 116/20 Rn. 33 ff. - FamRZ 2021, 704; Brüning in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig, UWG, 5. Aufl. 2021, Vorb. zu § 12 Rn. 322; Albert in: Götting/Nordemann, UWG, 3. Aufl. 2016, Vorb. zu § 12 Rn. 126; Bartels in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2017, § 890 Rn. 42). Die analoge Anwendung von § 54 StGB widerspräche dem Wortlaut der Norm und ihrem doppelten Regelungszweck, der sich nicht in der strafähnlichen Sanktionierung des Verstoßunrechts erschöpft, sondern darüber hinaus das rein parteinützige, straffremde Beugeinteresse umfasst (Hofmann, NJW 2019, 2126, 2130). Gegen eine analoge Anwendung spricht darüber hinaus, dass § 890 ZPO kein Verfahren zur Durchbrechung der rechtskräftigen Festsetzung von Ordnungsmitteln in getrennten Verfahren vorsieht, um entsprechend § 55 StGB, § 460 StPO nachträglich ein Gesamtordnungsmittel bilden zu können. Das wäre aber für den Fall erforderlich, dass wegen einer ersten Zuwiderhandlung ein Ordnungsmittel verhängt wird und vor der Rechtskraft der Entscheidung eine zweite Zuwiderhandlung geahndet wird, die vor der Verhängung des ersten Ordnungsmittels begangen wurde und daher theoretisch zusammen mit dem ersten Verstoß unter Anwendung des § 54 StGB hätte sanktioniert werden können. Dahinter steht der Gedanke, dass es dem Betroffenen weder zum Vor- noch zum Nachteil gereichen soll, ob mehrere Verstöße zufälligerweise in einem Verfahren oder nacheinander in mehreren Verfahren geahndet werden (Scholze in: Leipziger Komm. StGB, 14. Aufl. 2025, § 55 Rn. 1 f.).
Soweit ersichtlich, hat der BGH zur Frage der analogen Anwendbarkeit von § 54 StGB bislang nicht ausdrücklich Stellung genommen. Er hat aber in seinem Beschluss vom 17.12.2020 (I ZB 99/19 - GRUR 2021, 767) die Annahme der Vorinstanz, dass eine Gesamtstrafenbildung nicht stattfinde (OLG Stuttgart, Beschl. v. 19.09.2019 - 2 W 33/19 Rn. 45), nicht problematisiert und damit auch nicht beanstandet. Die Ausführungen des BGH, dass in der Zwangsvollstreckung bei der Bemessung des Ordnungsmittels auch ohne die Grundsätze der fortgesetzten Handlung alle Umstände berücksichtigt würden, die es angemessen erscheinen ließen, „bei wiederholten Verstößen nicht das Vielfache der für eine einzelne Zuwiderhandlung als angemessen erachteten Sanktion zu verhängen“ (BGH, Beschl. v. 18.12.2008 - I ZB 32/06 Rn. 14 - GRUR 2009, 427 „Mehrfachverstoß gegen Unterlassungstitel“; BGH, Beschl. v. 17.12.2020 - I ZB 99/19 Rn. 21 und 53 - GRUR 2021, 767), dürften daher nicht i.S.d. Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung nach dem Vorbild des § 54 StGB zu verstehen sein (zweifelnd OLG Karlsruhe, Beschl. v. 21.08.2020 - 16 WF 116/20 Rn. 32 und 44 - FamRZ 2021, 704), sondern dahin gehend, dass bei der Bemessung der Höhe der (schlicht zu addierenden) Einzelordnungsmittel berücksichtigt werden kann, dass eine Reihe von Einzeltaten vorliegt.
Im Ergebnis machte es im Streitfall für die Höhe der Ordnungsmittel also keinen Unterschied, ob über die Handlungen vom 17.11.2022 und 02. bis 04.06.2023 in einem oder in zwei Verfahren entschieden wurde.
III. In der Vollstreckung nach § 890 ZPO hat der Schuldner nicht für das selbstständige Handeln Dritter einzustehen (BGH, Beschl. v. 12.07.2018 - I ZB 86/17 Rn. 11 und 19 - GRUR 2018, 1183 „Wirbel um Bauschutt“) und kommt es allein auf das Verschulden des Schuldners an (BGH, Beschl. v. 03.04.2014 - I ZB 3/12 Rn. 11 - GRUR 2014, 909 „Ordnungsmittelandrohung nach Prozessvergleich“). Im Streitfall ist der Schuldgrundsatz gewahrt. Soweit der Schuldner am 02. und 03.06.2023 selber Liedzeilen gesungen und am 04.06.2023 den Videomitschnitt bei Twitter gepostet hat, liegt dies auf der Hand. Eine schuldhafte Zuwiderhandlung liegt aber auch vor, soweit der Schuldner das Publikum durch Gesten dazu animiert hat, Liedzeilen zu singen. Das OLG hat in seiner Beschwerdeentscheidung mit Recht darauf abgestellt, dass dem Schuldner nicht nur untersagt worden ist, die verfahrensgegenständlichen Äußerungen (eigenhändig) zu verbreiten, sondern auch, sie verbreiten zu lassen. Eine solche Formulierung deckt nicht nur eine Haftung als Täter, sondern auch als Teilnehmer, hier als Anstifter, ab (vgl. BGH, Urt. v. 05.03.2020 - I ZR 32/19 Rn. 49 - GRUR 2020, 738 „Internet-Radiorecorder I“).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Sofern nach Einleitung eines Ordnungsmittelverfahrens gemäß § 890 ZPO weitere Verstöße gegen den Unterlassungstitel festgestellt werden, ist zu prüfen, ob die Zuwiderhandlungen Teile einer einzigen natürlichen Handlungseinheit sind. Bestehen insofern Zweifel, ist es ratsam, das bereits eingeleitete Verfahren um die weiteren Verstöße zu erweitern, weil einem zweiten Verfahren andernfalls das Doppelahndungsverbot entgegenstehen kann. Sind die weiteren Verstöße allerdings nach der Zustellung des ersten Ordnungsmittelantrags begangen worden, ist aufgrund der damit verbundenen Zäsurwirkung nicht von einer natürlichen Handlungseinheit auszugehen.



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