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Anmerkung zu:BAG 5. Senat, Urteil vom 04.05.2022 - 5 AZR 359/21
Autor:Dr. Daniel Holler, RA
Erscheinungsdatum:05.10.2022
Quelle:juris Logo
Normen:§ 286 ZPO, § 611a BGB, § 612 BGB, § 3 ArbSchG, 12008E153
Fundstelle:jurisPR-ArbR 40/2022 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Holler, jurisPR-ArbR 40/2022 Anm. 1 Zitiervorschlag

Überstundenvergütung Kein unionsrechtlicher Flankenschutz im Überstundenvergütungsprozess



Leitsatz

Verlangt der Arbeitnehmer Überstundenvergütung, hat er im Prozess die Leistung solcher und deren Veranlassung durch den Arbeitgeber darzulegen. Vom Erfordernis der arbeitgeberseitigen Veranlassung ist nicht wegen der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung eines Systems zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit (EuGH 14. Mai 2019 - C-55/18 „CCOO“) abzurücken.



A.
Problemstellung
Die Entscheidung war mit Spannung erwartet worden und kann neben der Entscheidung des BAG vom 13.09.2022 (1 ABR 22/21) als eine „der“ Entscheidungen für das Jahr 2022 bezeichnet werden.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Ursprung des Verfahrens war eine „klassische“ Überstundenkonstellation: Der Kläger war bei der Beklagten vom 01.10.2014 bis zum 30.06.2019 als Auslieferungsfahrer für Lebensmittelbestellungen beschäftigt. Die Arbeitszeiterfassung bei der Beklagten erfolgt mittels technischer Zeitaufzeichnung. Anders als die Mitarbeiter vor Ort erfasste der Kläger als Auslieferungsfahrer allein Beginn und Ende der Arbeitszeit, nicht aber die Pausenzeiten.
Der Kläger verlangte von der Beklagten nun eine Vergütung von 348 Überstunden, die sich aus dem positiven Saldo der Zeitaufzeichnungen ergäben und daraus resultierten, dass er keine Pausen gemacht, sondern stets gearbeitet habe. Pausen seien nicht möglich gewesen, weil sonst die Auslieferungsaufträge nicht hätten abgearbeitet werden können.
Die Beklagte war indes der Auffassung, dass die Zeitaufzeichnung nicht die zu vergütende Arbeitszeit dokumentiere. Es handle sich um sog. „Kommt- und Geht-Zeit“. Auch sei der Kläger angewiesen worden, arbeitstägliche Pausen zu nehmen und habe solche auch gemacht.
Das ArbG Emden hat unter Hinweis der Rechtsprechung des EuGH vom 14.05.2019 (C-55/18 „CCOO“) der Klage vollumfänglich stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 78,25 Überstunden verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem BAG keinen Erfolg.
II. Nach Auffassung des BAG habe der Kläger die 348 Überstunden schlüssig dargelegt, konnte jedoch nicht hinreichend darlegen, dass alle diese Überstunden auch durch die Beklagte veranlasst waren.
1. Für die hinreichende Darlegung von Überstunden genügt der Arbeitnehmer seiner Darlegungslast, wenn er vorträgt, an welchen Tagen er von wann bis wann Arbeit geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten hat. Mit dem Vortrag, zu bestimmten Zeiten gearbeitet zu haben, behauptet der Arbeitnehmer regelmäßig zugleich, während der genannten Zeiten die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung erbracht zu haben. Diesem Vortrag muss dann der Arbeitgeber substantiiert erwidern und vortragen, welche Arbeiten er dem Arbeitnehmer zugewiesen hat, und an welchen Tagen der Arbeitnehmer von wann bis wann diesen Weisungen – nicht – nachgekommen ist.
Der Kläger hat hier seiner Darlegungslast genügt, in dem er aufgezeigt hat, von wann bis wann er gearbeitet haben will und in diesem Zeitraum keine Pausen gemacht hat. Gestützt hat er diesen Vortrag durch die (eingeklagten) technischen Aufzeichnungen. Dass es lebensfern ist, wenn der Kläger behauptet, während der ganzen Zeit nie eine Pause gemacht zu haben, habe auf die Substantiierung des Vortrags keine Auswirkung. Auch ein substantiiertes Lügen ändert nichts an der Substanz des Tatsachenvortrags, sondern ist eine Frage der Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit des Klägers (§ 286 Abs. 1 ZPO).
2. Allerdings konnte der Kläger nicht darlegen, dass die Überstunden auch von der Beklagten veranlasst waren.
a) Erbringt der Arbeitnehmer Arbeit in einem die Normalarbeitszeit übersteigenden zeitlichen Umfang, ist der Arbeitgeber zu deren Vergütung nur verpflichtet, wenn er die Leistung von Überstunden veranlasst hat oder sie ihm zumindest zuzurechnen sind. Zur Vergütung einer aufgedrängten Arbeit ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet. Eine Anordnung liegt auch nur dann vor, wenn die Überstunden vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt, geduldet oder jedenfalls zur Erledigung der geschuldeten Arbeit notwendig gewesen sind (BAG, Urt. v. 10.04.2013 - 5 AZR 122/12). Rechtlich zieht der Senat für diese Argumentation zum einen die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers (§ 611a Abs. 1 BGB), die als Leistungspflicht der Vergütungspflicht gegenübersteht, und zum anderen § 612 Abs. 1 BGB heran, nach dem eine Vergütung nur zu erwarten ist, wenn die Arbeitsleistung dem Arbeitgeber zugerechnet werden kann. Dass das für die jeweilige Überstunde der Fall war, muss der Arbeitnehmer auch entsprechend darlegen. Ein pauschales Behaupten, die Überstunden seien veranlasst gewesen, reicht nicht aus.
b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des EuGH zur Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung eines Systems zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit. Die Pflicht zur Messung der Arbeitszeit hat keine Auswirkung auf die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess.
Unabhängig von der Frage, ob und inwieweit die unionsrechtliche Pflicht zur Arbeitszeiterfassung im nationalen Recht Berücksichtigung findet, hat diese keine Auswirkung auf die Darlegungs- und Beweislastverteilung im Überstundenprozess. Das Unionsrecht umfasst inhaltlich allein die Arbeitszeiterfassung im arbeitszeitrechtlichen Sinn und damit Belange des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, aber nicht die Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinn. Insoweit kann sich die Entscheidung des EuGH und das der Entscheidung zugrunde liegende Unionsrecht nicht auf die Darlegungs- und Beweislastverteilung in einem Vergütungsrechtsstreit auswirken, der sich ausschließlich nach nationalem Prozessrecht und materiellem Recht gestaltet.
3. Schlussendlich wiederholt der Senat noch einmal, welcher Vortrag notwendig ist, um die jeweilige Veranlassungsart der Überstunde hinreichend darzulegen (BAG, Urt. v. 10.04.2013 - 5 AZR 122/12):
(1) Für die ausdrückliche Anordnung von Überstunden muss der Arbeitnehmer vortragen, wer wann auf welche Weise wie viele Überstunden angeordnet hat.
(2) Für eine konkludente Überstundenanordnung muss der Arbeitnehmer darlegen, dass eine bestimmte angewiesene Arbeit innerhalb der Normalarbeitszeit nicht zu leisten oder ihm zur Erledigung der aufgetragenen Arbeiten ein bestimmter Zeitrahmen vorgegeben war, der nur durch die Leistung von Überstunden eingehalten werden konnte.
(3) Für eine Billigung der geleisteten Überstunden muss der Arbeitnehmer darlegen, wer wann auf welche Weise zu erkennen gegeben hat, mit der Leistung welcher Überstunden einverstanden zu sein. Eine widerspruchslose Entgegennahme der Arbeit oder Arbeitsaufzeichnung reicht nicht aus.
(4) Bei einer Duldung der Überstunden muss der Arbeitnehmer darlegen, von welchen wann geleisteten Überstunden der Arbeitgeber auf welche Weise wann Kenntnis erlangt haben soll und dass es im Anschluss daran zu einer weiteren Überstundenleistung gekommen ist. Erst wenn dieses feststeht, ist es Sache des Arbeitgebers, darzulegen, welche Maßnahmen er zur Unterbindung der von ihm nicht gewollten Überstundenleistung ergriffen hat.


C.
Kontext der Entscheidung
Der Fünfte Senat trotzt der im Schrifttum bestehenden Kritik an den Voraussetzungen des Überstundenprozesses, die Arbeitnehmer in die Pflicht nehmen, ihre Anspruchsbegehren gegenüber dem Arbeitgeber darzulegen und nachzuweisen, und hält an seiner bisherigen Rechtsprechung fest. Die zwischenzeitliche Rechtsprechung des EuGH hat darauf keinen Einfluss. Wie der Senat zu Recht konstatiert, handelt es sich um zwei ganz unterschiedliche Bereiche, die trotz ihrer praktischen Nähe rechtlich sauber voneinander zu trennen sind: Die Pflicht zur Zeiterfassung ist Teil des Arbeits- und Gesundheitsschutzes; es geht in diesem Rahmen ausschließlich um die Aufzeichnung der Arbeitszeit im arbeitszeitrechtlichen Sinne. Davon zu trennen ist die Frage, ob die Zeit, in der Arbeit erbracht worden ist, vergütungspflichtig ist. Auf die arbeitsschutzrechtliche Zeiterfassungspflicht zurückzugreifen, um eine vergütungspflichtige Überstunde darzulegen, würde insoweit zum „Rosinenpicken“ aus unterschiedlichen Zweckinstrumenten führen. Auf die Inkompetenz der Union in Sachen des Arbeitsentgelts (Art. 153 Abs. 5 AEUV) muss man insoweit gar nicht hinweisen.
Der Senat stellt zudem klar, dass es bei der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess um einen ganz profanen zivilprozessrechtlichen Grundsatz geht: Wer einen Anspruch behauptet, hat diesen auch darzulegen und zu beweisen. Dass es der Arbeitnehmer in der Praxis oft schwer hat, die Veranlassung (lang) zurückliegender Überstunden durch den Arbeitgeber darzulegen, liegt nicht daran, dass es dem Arbeitnehmer nicht möglich oder nicht zumutbar wäre, die Veranlassung festzustellen, sondern die Ursache liegt häufig darin begründet, dass der Arbeitnehmer mit einer (gerichtlichen) Geltendmachung der Überstundenabgeltung über einen längeren Zeitraum wartet und auch keine Aufzeichnungen oder Unterlagen für die Begründung angefertigt hat. Dass kaum ein Mitarbeiter dokumentiert, warum Überstunden gemacht worden sind, liegt nicht im Risikobereich des Arbeitgebers und rechtfertigt weder eine sekundäre Darlegungslast noch eine materiell-rechtliche Fiktion der Veranlassung.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung ist Pflichtlektüre! Der Senat begründet in dieser nicht nur sein Festhalten am bisherigen Vorgehen im Überstundenprozess, sondern wiederholt seine „Handlungsanweisungen“ für Arbeitnehmer(vertreter), was im Rahmen der Veranlassung konkret vorzutragen ist, differenzierend nach der jeweilig vorgetragenen Veranlassungsart. Gleichwohl bleibt nach der Entscheidung des Ersten Senats vom 13.09.2022 offen, ob und inwieweit sich die Pflicht des Arbeitgebers aus der unionsrechtskonformen Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG, die Arbeitszeit zu dokumentieren und die Zeiterfassung auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen (§ 3 Abs. 1 Satz 2 ArbSchG; vgl. Roloff in: ErfKomm, 22. Aufl. 2022, § 3 ArbSchG Rn. 2), nicht doch auf den Überstundenvergütungsprozess auswirken kann. Man wird hier die weitere instanzgerichtliche Rechtsprechung im Blick behalten müssen.



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